Kopfreisen durch Oberfranken

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Zwischen Hard- und Slowcore habe ich immer noch nicht seinen Rhythmus gefunden, der mich permanent aus Freude tanzen lässt. Aber ehrlich: Gibt’s den überhaupt? Oder ist die Suche nach Glück krankhaft?

Zu Hause ist es so traurig. Es ist genau so, wie ich es verlassen habe, es entspricht den Bedürfnissen dessen, der als Letzter gegangen ist, als wollte es ihn zurückgewinnen…
(Philip Larkin, Home is so sad)

Nicht ich bin auf Larkins Zitat gestoßen, sondern der Weltreisende und Tourismuskritiker Dan Kieran betitel mit diesem Auszug das zweite Kapitel seines Buches „Slow Travel“. Noch ein paar Zentimeter weiter oben steht: „Bleib zu Hause“.  Mein Leben verläuft gerade zwischen den beiden Absätzen. Zum Daheimbleiben verdammt, die Reise vor Augen. Wo bin ich eigentlich? Ist die Heimat uninteressant, ja sogar feindlich für zeitweise arbeitslose Schreiber? Oder habe ich Oberfranken einfach bislang aus der falschen Perspektive betrachtet? Gibt es das Glück für den zu Hause gestrandeten Reisejournalisten? Zum Glück bin ich auf Dan Kieran gestoßen.

Genauer: Meine ehemalige Arbeitskollegin und vor allem Spät-Augsburg-Freundin Orla hat mir sein Buch empfohlen und es war ein Volltreffer. Gerade in jenem zweiten Kapitel finde ich Bestärkung:

In welchen geografischen Breiten man sich auch immer befindet, das eigentliche Reisen findet im Kopf statt, also ist es eine interessante Übung, die eigene Umgebung mit der Haltung eines Reisenden zu betrachten (…)
(Dan Kieran, Slow Travel)

Was habe ich also gemacht? Meine Tage so gelebt, als würde es kaum Verpflichtungen auf der Welt geben – die es zur Zeit tatsächlich nicht gibt. Kein Job, neuerdings kein Formularkrieg mehr mit den Behörden. Kein wertvolles Eigentum, keine Freundin. Allein ich und meine Kamera und vor allem die Zeit, das zu tun, was ich zuvor in Deutschland schon lange nicht mehr umsetzen konnte. Alte Freunde und Zeit für Gespräche mit Unbekannten, Werktagskonzerte und Ausflüge in die Natur. Einziger Zwang: Rückengymnastik und Geldsparen für den zweiten Teil der Reise (Pläne, über die ich beizeiten schreiben werde). Mein langjähriger Kumpel Max fragt mich regelmäßig aus Berlin: „Bei wem schnorrst du dich diesmal durch?“ Das lässt sich auch als Leserfrage interpretieren. Hier die Antworten.

Der Staffelberg am 2. Januar 2019 nach dem Schneegestöber.

Aileen war die vielleicht – um es mit Max‘ Worten zu sagen – anspruchsloseste Schnorrerin aller Zeiten. Als ich die chinesische Couchsurferin nach ihrem Getränkewunsch gefragt habe – Bier, Wein, Tee – antwortet sie, dass man bei ihr zu Hause eher heißes Wasser trinkt. Drei Tassen heißes Wasser und eine Nacht später wandern wir von Vierzehnheiligen auf den Staffelberg. Aileen lebte zuletzt in Shenzhen, eine Stadt, in der im Jahr 1950 etwa 3000 Einwohner lebten (also rund 2000 weniger als in Burgkunstadt heute) und die 2017 an der 12-Millionen-Marke kratzt (1,2 Millionen weniger als Bayern).

Aileen landet auf ihren Ausflügen dort, wo nur selten Touristen landen.

Im Januar ist sie in die Nähe von Jena aufs Land gezogen, selbst das vergleichsweise beschauliche Nürnberg sei ihr zu laut gewesen. In Jena studiert sie Soziologie und erfüllt sich den Wunsch Deutschland und Europa zu bereisen, ja viel mehr noch Deutsch zu lernen und alles zu entdecken, was sie bisher nicht kannte: in diesen Tagen Schwarzbier und Weißwurst nach der Wanderung im Vierzehnheiligener Trunk. Ihre Reisephilosophie erstaunt mich. Sie hat Silvester auf einem Dorf in Mittelfranken verbracht und hat ohne jegliche Kenntnisse anhand von Air B’n’B und Couchsurfing ihren Weg durch Franken fortgesetzt. Irgendwann ist sie in Burgkunstadt gelandet und hat mit dem Lächeln einer Reisenden, die etwas Wunderbares in meinem Alltag entdeckt hat, Städtchen und Land das Siegel „die schönste Gegend, die ich sie auf ihrer Reise gesehen habe“ ausgestellt. Das habe ich lange Zeit nicht wahrgenommen.

Auch der Autor Dan Kieran begibt sich in seinem Buch auf eine Wanderung durch die South Downs im Südosten Englands, einem Ort, den er schon Hunderte Mal gesehen, doch nie durchwandert hat. Er sucht nach einer alten Römerstraße, zweifelt ein paar Mal am Weg, findet neue Energie beim Gedanken an ein kühles Bier in South Harting und philosophiert über die Zeit. Irgendwann in seinem Leben ist auf einer Aufteilung der Zeit gestoßen, die im antiken Griechenland in zwei Gottheiten ihren Ausdruck fand. Chronos, der die lineare, physikalische Zeit beherrscht – und Kairos: der Herr einer „göttlichen Zeit“, die sich nicht in Stunden, Minuten, Sekunden bemessen lässt. Es geht hier um Zeit, die wertvoller ist als andere, weil man… nunja, auf die Definition wartet man vergebens. Aber ist die eine Zeit, besser, intensiver, langsamer als die andere? Bessere Zeit? Das hört sich schon seltsam an, wenn man mit dem Gedanken auf die Uhr schaut.

Unbekannte Wälder: Zum ersten wandere ich zwischen zwei Orten, die ich sonst ein paar Kilometer westlicher von der Bahnstrecke aus gesehen habe.

Grundsätzlich glaube ich, dass es beim Wandern, langsamen Reisen und bei den beiden Zeitgöttern viel mehr um den altbekannten Trick des Gehirns geht, warum der Zeiger sich in der Kindheit langsamer und im Alter schneller dreht. Es geht darum Neues zu erleben, sich in die Kindheit zurückzuversetzen, einmal mehr neue Erfahrungen zu sammeln und nicht vom vorhandenen Wissen zu zehren. Mit jedem Schritt vor die Haustür kann man die Bereitschaft zeigen, nicht alles im Vorfeld zu wissen, sondern der Welt eine neue Chance zu geben – selbst wenn es sich lediglich um die Wanderung auf den Staffelberg und zum mir unbekannten Teufelsgraben im Wald ein paar Kilometer oberhalb des Hauses meiner Eltern handelt.

Zwischen Hard- und Slowcore

Was ich früher als wahnhafte Sprünge zwischen Ruhe und Rausch wahrgenommen habe, ergibt mittlerweile mehr Sinn. Der Ausgleich nach mehr oder weniger einsamen Wanderungen? Musikalische Exzesse an Orten, die ich über Jahre gekannt, aber nie oder schon lange nicht mehr besucht habe. Den Hinweis, dass in einem Independent-Club auf dem Dorf eine Hardcore-Show mit vier Bands ausgetragen wird, hätte ich vor zwölf Jahren mit einem beiläufigen Nicken aufgenommen und wieder vergessen. Diesmal lande ich mit ein paar anderen Kulmbachern, die mir einen Platz anbieten, in Addis Auto auf den Weg in den Zebra Club in Hausen bei Bad Staffelstein.

Kein Raum für scharfe Bilder: Das Zebra in Hausen präsentiert sich als dunkler Lichtblick für die Konzertszene in Oberfranken. Diesmal: Hardcore.

Addi singt – oder vielmehr schreit – als Frontmann der Band Endorzer seine angestauten Aggressionen Richtung Publikum. Vor ihm ein kickender, schlagender Pogohaufen, der bis zum Ende der Show wächst und sich spätestens bei Rawside zu einer undurchsichtigen Masse bündelt. Um ihn herum präsentiert sich das Zebra als ein Diaspora der Gegenkultur in einer von Mainstream-Dosenmusik geprägten Region. Mir war weder bewusst, dass das Zebra genau das beherbergt, was ich in vielen Teilen Oberfrankens vermisse: den geglückten Versuch, im Niemandsland bierseelige, nonkonformistische Konzertkultur am Leben zu erhalten. Oder um es mit dem Zeitvergleich von Dan Kieran zu sagen: Genau dort findet sich Kairos, wo man den Ausbruch aus dem chronologischen Alltag wagt. Ein paar Prügel beim Tanzen einstecken inklusive.

Addi nimmt mich mit. Später brüllt er sich mit der Kulmbacher Band Endorzer einen aus der Kehle.

Low wehren sich seit Jahrzehnten gegen die Bezeichnung Slowcore als das Schubladenfach ihrer Musik. Muss ja nicht alles kategorisiert werden. Wenn man also überhaupt Hard- und Slowcore vergleichen will, bietet sich das Publikum an: Im Zebra gibt’s blaue Flecken, im E-Werk Erlangen ein paar böse Blicke, wenn der Bügelverschluss beim Öffnen des Biers zu laut ploppt. Verfällt man in Hausen in eine Trance des Veitstanz, tritt man im E-Werk spätestens beim Gitarrensolo Alan Sparhawks vor reduziert-psychedelischen Lichteffekten innerlich weg.

Alan Sparhawk und Mimi Parker im E-Werk.

Meinen ersten Durchgang der neuen Platte erlebte ich wie eine innere Reinigung, die sich bei der Show wiederholt: Zermartert vom weltfremden Ressorthostel-Leben der Globetrotter am Lago Atitlan in Guatemala lief die Platte jede freie Minute durch meine Ohrstöpsel. Manchen Menschen hilft fröhliche Musik, wenn sie traurig sind. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich in Momenten der kompletten Selbstzweifel auch Musik brauche, die sich und mich dekonstruiert. Low haben mit „Double Negative“ ein verwirrendes Nachfolgealbum zu „Ones and Sixes“ veröffentlicht, dessen elektronisches Rauschen das melodische Herz des Songs komplett überblendet. Für den Song „Quorum“ habe ich mir zweimal neue Kopfhörer besorgt, immer mit dem gleichen Resultat: Es ist was es ist. Die Zerstörung der klaren Songstrukturen, die sich irgendwo darunter verbergen. Zum Konzert verkehren Sparhawk, Mimi Parker und Steve Garrington das Erlebnis vom Studioalbum: Ohne elektronischen Überbau legen sie die Seele der Songs offen. Feeling blue statt blaue Flecken.

Im Grunde lässt sich das alles als eine oder mehrere Reisen durch die Heimat begreifen, die man nicht in Kategorien von guter, besser oder schlechter Zeit einteilen kann. Es bleiben ein paar neue Erfahrungen, die in dem Moment das Leben intensiver erscheinen lassen. Auch die Selbstzweifel an einem Leben am Rande der straff organisierten Gesellschaft gehören dazu. Man lernt immer besser damit umzugehen. Für Reiserückkehrer kann ich bislang eigentlich nur einen Tipp geben: Versucht diesen Blick fürs Unbekannte auch in vermeintlich bekannten Orten beizubehalten. Und für Max als Antwort: Gar nicht so viel geschnorrt. Erst wieder bei meinem nächsten Besuch in Berlin.

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