My Corona – Chronologie einer Reise durch Epidemie-Gebiete

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Am Donnerstag um 8.57 Uhr atme ich etwas tiefer ein und aus als in den vergangenen Tage. Davor drehen sich die Gedanken im Kreis: Wem habe ich die Hand geschüttelt, wen umarmt, wie – verdammt – konnte ich nur so blind weiterreisen. Als China-Reisender zu Corona-Zeiten hätte ich es besser wissen müssen.  Von einer Realitätsflucht von Asien nach Europa. 

Ich wache spät auf. Es besteht kein Grund aufzustehen, auch nicht am Tag der Entscheidung. Die Mitarbeiter des Gesundheitsamts Lichtenfels haben mir ja nach den Abstrichen am Montag gesagt: „Donnerstag wird’s schon werden.“ Was soviel heißt wie: Donnerstag oder Freitag oder… Neben mir hat Netflix automatisch auf den Startbildschirm umgeschaltet, nachdem ich zum zweiten Mal bei Marriage Story eingeschlafen bin.

Ein Blick aufs Handy. Ein Anruf in Abwesenheit: 09571… Ich renne aus meinem Kellerzimmer nach oben zur Wohnung meiner Eltern. Mein Vater sitzt beim Frühstück und blickt mich durch die Tür an. Ich sage: Sie haben angerufen. Er nickt. Ich tippe auf Nummer zurückrufen. Nicht erreichbar. Zurückrufen. Nicht erreichbar, wiederholt die Computerstimme. Ich suche eine Nummer des Gesundheitsamts, die ich nach meiner Rückkehr nach Oberfranken am Montag gewählt habe.

„Ja, hallo?“

„Sünkel. Bastian Sünkel. Hallo.“ (Ich denke in dem Moment weniger an Agentenfilme als an die Gefahr einer Verwechslung in der wahrscheinlich einzigen Region Deutschlands, in der mehr als eine Sünkel-Familie lebt.) „Mich hat eine andere Durchwahl angerufen, aber die ist nicht erreichbar…“

„Herr Sünkel… Negativ. Wir wollten Ihnen nur sagen, dass Ihr Corona-Testergebnis negativ ist.“

Einatmen. Ausatmen.

Meinem Vater zeige ich den Daumen nach oben. Er weiß, dass ich negativ meine. Die Unterhaltung ist seit Tagen nicht so entspannt, wie beim geköpften Frühstücksei nach dem Telefonat. Ich freu mich über den Moment die Kaffeekanne anzufassen, ohne Angst zu haben, meine Eltern anzustecken. Alle Sicherheitsmaßnahmen bleiben: Hände waschen, Desinfektion, Abstand, keine Berührungen – auch wenn man sich zweieinhalb Monate nicht gesehen hat.

Seit Mittwoch, 18. März, leben wir wieder zu sechst in dem Haus in Burgkunstadt. Meine Eltern, 58 und 59 Jahre alt, mein Bruder Philipp, der am Samstag 27 wird und mit seiner Frau Anna einen alten Bauernhof im Nachbarort renoviert, in den die beiden im Sommer einziehen wollen. Mein Bruder David, 24, ist am Mittwoch zu den Semesterferien und wegen der Geburtstage seiner Brüder aus Kassel zurückgekehrt. Schließlich ich, bald 34, der sich nach einer knapp zwei Jahre andauernden Reise — mit Unterbrechungen — zuletzt in Kasachstan, China, Kambodscha und Österreich aufgehalten hat und mit seinen Nerven um Fassung ringt: War es die richtige Entscheidung, zu meinen Eltern zurückzukehren und sie in Gefahr zu bringen? Bring ich sie überhaupt in Gefahr? Wo soll ich hin? Wen habe ich alles angesteckt? Kann ich mich testen lassen? Was ist im Januar in China geschehen, kurz bevor ich das Land fluchtartig verlassen habe?

Ganz weit weg //
14. Januar 2020. Urumqi, Xinjiang, China

Ich weiß nicht, ob ich Queenie ernst nehmen soll. Sicher, seit ich die Reise begonnen habe, vertraue ich den Menschen, die in einem Land leben mehr als Reiseführern und den hippen Blogs einer Generation der Weltreisenden. Aber in diesem Fall spielen sich zu viele Klischees über China in meinem Kopf ab.

Queenie kehrt zum Neujahrsfest von einer Reise nach Hong Kong zurück — ohne Flug. Sie reist seit Italien fast ununterbrochen im Zug durch Osteuropa, Russland, Kasachstan. Sie ist für mich eine glückliche Zufallsbegegnung im Nachtzug von Almaty in Kasachstan nach Urumqi, China, am 14. Januar, weil sie offensichtlich die einzige Person auf dem Weg nach Osten ist, die Englisch spricht und sich mit mir ein Abteil teilt. Wir reden über Reisen, über das chinesische Neujahrsfest, Lebensgeschichten. Sie erzählt mir, dass ich mich auf lange Wartezeiten in den Bahnhofshallen und ausverkaufte Bahntickets einstellen soll. Ganz China reist durch das Land zu Eltern und Großeltern, um zusammen das Neujahrsfest am 24. und 25. Januar zu feiern.

Queeny gibt mir meinen ersten Mundschutz auf der Zugfahrt von Almaty nach Urumqi, China.

Kurz bevor wir nach 23 Stunden den Bahnhof in Urumqi erreichen, kramt sie in ihrer Tasche und reicht mir einen Mundschutz. Es gebe ein neuartiges Virus in Wuhan, erklärt sie mir. Wahrscheinlich sei es nicht von Mensch zu Mensch übertragbar und Wuhan liegt 2764 Kilometer von Urumqi entfernt, aber ich solle in Bahnhöfen vorsichtig sein und die Maske tragen, rät mir Queenie.

Ich muss lachen, bitte sie um ein Maskenselfie, weil es die erste Schutzmaske ist, die ich in der Öffentlichkeit trage. Aber was habe ich Unwissender auch von China erwartet? Umweltverschmutzung in den Städten. Maske. Menschenmassen. Maske. Geringere Probleme  mit staatlicher Kontrolle als Europäer. Maske.

Ich verabschiede mich am Bahnhof Urumqi maskiert. Als Queenie aus meinem Blickfeld verschwunden ist, verstaue ich den Mundschutz im Rucksack. Vielleicht brauche ich ihn ja noch gegen den Smog in Peking.

15. bis 17. Januar: Der lange Weg nach Chengdu

Ich weiß nicht, wie viele Menschen ich in den 41 Stunden nach Chengdu gestreift, berührt und zum Abschied umarmt habe. Für einige Passagiere, die mich als Zigarettendreher im Rauchereck gemustert haben, ob ich Gras rauche, habe ich Zigaretten gedreht, um ihnen die Nüchternheit meines deutschen Tabaks zu beweisen. Ich hab schweißgebadet meinen Rucksack durch die überfüllten Züge gestemmt vorbei an den Passagieren, die wie ich nur ein Stehplatzticket ergattert haben. Am Bahnhof Hami, im Rauchereck des Zugs – dem einzigen Bereich, in dem nicht Menschenmassen in den Gängen nicht die Ruhe stören –  und auf dem Restauranttisch hab ich geschlafen, nur um irgendwie aus dem Big-Brother-Überwachungsprovinz Xinjiang zu fliehen, in der ich in 24 Stunden 15-mal kontrolliert wurde.

Wer einen Stehplatz hat, muss sich Alternativen suchen…

Die Krankheit in Wuhan ist auch im Zug nur ein Nischenthema. Meine selbstgedrehten Kippen sind interessanter. Mundschutz? Trägt so gut wie niemand. Ich fange an mein kleines Fläschchen Desinfektionsmittel sparsam zu nutzen. Nicht wegen der Angst vor der Krankheit, sondern wegen des Ekels vor dem Teppichboden im Raucherbereich.

…wie einen Schlafplatz im Bordrestaurant im Zug nach Chengdu.

Als ich am 17. Januar nach 41 Stunden Fahrt- und Wartezeit Chengdu, Provinz Sichuan,  in Zentralchina erreiche, berichtet Chinas Regierung von 45 bestätigten Fällen in Wuhan. Drei Menschen sind an den Folgen des Virus‘ gestorben. Fast drei Tage war ich von den Medien abgeschnitten, weil mir in Urumqi kein Mobilfunkladen eine SIM-Karte verkaufen wollte.

Als ich die Nachricht lese, bin ich verwundert, ob sich ein Virus wirklich nur von einem – oder mehreren? – infizierten Tier(en) auf so viele Menschen direkt übertragen kann. Aber Wuhan ist immer noch weit weg, 976 Kilometer Luftlinie. Auf der Suche nach WLAN entdecke ich die entspannte 15-Millionen-Einwohner-Metropole Chengdu mit Menschen am Straßenimbiss, in den Einkaufszentren, in den Cafés – davon nur ein Bruchteil mit Masken. Die Sonne scheint, meine Stimmung klart auf und ich buche mir im Starbucks einen Schlafplatz im Sechs-Bett-Zimmer des nächstgelegenen Hostels.

18. bis 21. Januar: Ein kurzer Abstecher in die Normalität

Ich habe ein 56-Tages-Visum in meinem Reisepass und nach vierTagen im Land endlich die Möglichkeit, China entspannt zu entdecken. Meine Reisefreundin Amy, die ich im Iran kennengelernt habe, hat mich in ihre Heimatstadt Zigong eingeladen. Eine Kleinstadt, wie sie sagt. Etwa 2,8 Millionen Menschen leben dort, 162 Kilometer südöstlich von Chengdu.

Brandenburger Tor trifft auf Kolosseum und Eiffelturm beim Lichterfestival.

Mit ihren Freunden besuchen wir eines der größten Lichterfestivals in China, das Brandenburger Tor leuchtet vom Hügel des von Tausenden Menschen besuchten Geländes. Wir teilen uns Fisch-Hot-Pot im Restaurant. Mit unseren Stäbchen und einem Schöpflöffel fischen wir in dem von einer Kochplatte beheizten Topf nach den Stückchen. Ich durchwandere Chengdu, wir gehen in Bars und einen Club mit Trampolintanzfläche vor dem DJ-Pult.

Kurz vor dem Ausbruch: ein kurzer Abstecher in die Normalität mit Amy…

Amy schenkt mir eine ihrer SIM-Karten und ich studiere die Nachrichten. Die Meldungen haben schon zuvor die befreiten Abende in Zigong für Sekunden gestört. Mehr Infizierte, Tag für Tag. Trotz allem hat der Bürgermeister von Wuhan die traditionellen Familienessen kurz vor Neujahr abgehalten. Etwa 40000 Familien sollen an verschiedenen Veranstaltungsorten Speisen geteilt haben, etwa so, wie wir den Fisch-Hot-Pot.

…und ihren Freunden bei Fisch-Hotpot in Zigong.

Nach drei Nächten, am 21. Januar, fahre ich im Schnellzug zurück nach Chengdu. Mit dem ersten WHO-Bericht folgt die Bestätigung meiner Angst, die zuvor im Reisemodus hinter dem Freiheitsdrang verschwunden ist. Das Virus ist von Mensch zu Mensch übertragbar. Als ich Chengdu erreiche, schreibt mir Amy eine Nachricht über den chinesischen Messenger WeChat:

„Chengdu hat jetzt auch einen bestätigten Infizierten. Vergiss nicht, deine Gesichtsmaske zu tragen.“

Ich verlasse den Bahnhof und sehe eine Stadt, die sich in drei Tagen verwandelt hat.

21. bis 27. Januar: Freiheit vs. Furcht – Flucht aus China

Reisenden fällt es oft schwer, die Realität zu akzeptieren. Was ich an mir erkannt habe: Ich flüchte regelrecht vor den jüngsten Meldungen über das neuartige Corona-Virus vor Tatsachen und Ängsten und verschanze mich immer wieder in Situationen, die im Nachhinein schlichtweg leichtsinnig wirken. Was der Reisende nicht aufgeben will: seine Illusion der Freiheit.

Noch am Abend meiner Rückkehr treffe ich Lin, die gutes Deutsch und perfektes Englisch spricht. Sie schenkt mir zur Begrüßung eine Box mit 50 Masken für Mund und Nase. Sie sagt, ich solle nichts riskieren auf meiner Reise durch China. Wir essen Mien in einem Restaurant, trinken in der Berlin Bar auf einem Hochhaus-Dach auf unsere Gesundheit. Lin schätzt die Situation besser ein als ich und spricht davon, dass wir die Entwicklungen abwarten müssen. Ich gehe davon aus, dass die Reise mit Mundschutz und Desinfektionsmittel weitergeht Richtung Osten — natürlich nicht über Wuhan. 

Die letzten drei Gäste im Panda-Park in Chengdu.

Von einem Tag auf den anderen wird Corona das Hauptthema in meinem Tagebuch. Im Hostel herrscht Verunsicherung. Reisende wollen das Ende nicht sehen, schließlich gilt das Virus für unsere Altersklasse ja als ungefährlich. Die Toten seien ja alle alt und krank gewesen. An der Rezeption steht eines Tages Desinfektionsmittel. Am 22. Januar verbringe ich die Nacht mit Couchsurfern in Clubs und Bars, bevor ich am nächsten Tag in mein Tagebuch schreibe:

„Langsam bricht Panik aus – zumindest in Deutschland. Täglich erhalte ich Nachrichten, dass ich bloß Mundschutz tragen soll. Ich reagiere mit Ironie. Corona gegen Corona.“ Ist das noch Homöopathie oder Selbstbetrug?

Doch vor dem Gefühl der Ungewissheit kann auch ich mich nicht verstecken. An diesem Tag bleibe ich zum ersten Mal im Hostel, besichtige keine Sehenswürdigkeiten, Restaurants, Bars. Ein kurzer Abstecher in den Supermarkt muss genügen.

Auf einmal sind die Straßen leer: Chengdu kurz vor der Ausgangssperre.

Einen letzten Ausflug unternehme ich am 24. Januar mit zwei Hostel-Mitbewohnern in den weltberühmten Panda-Park. Die Straßen Chengdus werden von Tag zu Tag leerer, was uns allerdings nicht überrascht. Das Neujahrsfest ist schließlich ein ruhiges Familienfest, keine Straßenparty. Regelmäßig schließen einmal im Jahr ein Großteil der Läden. Wir sind die letzten drei Gäste an diesem Tag, die Eintrittskarten für den Panda-Park bekommen. Ein Polizist gibt nach uns die Anweisung, den Ticketschalter zu schließen.

Als wir Stunden später ins Hostel zurückkehren, erklärt uns der junge Mann an der Rezeption, dass wir Glück hatten. Der Panda-Park wird geschlossen, wahrscheinlich für Monate. Auch die anderen Sehenswürdigkeiten wie die riesige Buddha-Statue im Umland und der Berg Emei sind bereits dicht.  Am Neujahrstag wird die Situation für uns brisant: Das Hostel wird — offiziell auf Eigeninitiative — geschlossen, nachdem die Regierung auch den Lockdown von Wuhan eingeleitet hat. Die Reisenden suchen nach Alternativen, keiner denkt zu dieser Zeit an eine verfrühte Heimkehr.

Ich führe Gespräche mit den Angestellten und anderen chinesischen Gästen. Viele erleben gerade ein Dejavu der SARS-Epidemie 2003. Das Misstrauen gegen die eigene Regierung vor Vertuschung und schlechter Katastrophenpolitik wächst. Die Neujahrsshow im Fernsehen erinnert an eine „Wir-haben-alles-unter-Kontrolle“-Parade.

Am 24. Januar gebe ich mein Ticket nach Chongqing am Bahnhof zurück, das ich mir am Tag meiner Rückkehr nach Chengdu gekauft habe. Auch der Bahnhof ist nicht wiederzuerkennen, vereinsamt wie die Straßen. Menschen stehen vor allem an den Rückgabeschaltern schlange. Am 25. Januar treffe eine Entscheidung: raus aus China. Ich kaufe mir das günstigste Ticket bei Skyscanner, der Flug geht in eineinhalb Tagen.

Das Hostel schließt zur Mittagszeit. Wann es wieder aufmacht? Der Mitarbeiter schaut mich fragend an. Im April vielleicht? Mit Mundschutz, Desinfektionsmittel und einer kleinen Flasche Baijiu, 52-prozentiger Reisschnaps, in der Tasche, irre ich am 26. Januar stundenlang durch eine menschenleere Stadt. Das sei nicht normal dieses Jahr, schreibt Amy. Einen Tag nach Neujahr füllen sich die Straßen in den chinesischen Städten wieder. Das sei das Virus.

Am Flughafen wird meine Körpertemperatur mit einem pistolenähnlichen Apparat am Kopf gemessen, bevor mein Flieger am Morgen des 27. Januar in ein Land startet, das bisher noch keinen einzigen Corona-Fall bestätigt hat: Phnom Penh, Kambodscha.

27. Januar bis 1. März: Kambodscha

Ich bin irritiert, als ich am Flughafen in Phnom Penh das Flugzeug verlasse. Kein Gesundheitscheck, nicht einmal eine Thermometerpistole wird mir an die Stirn gehalten wie Stunden zuvor in China. Die Straßen der kambodschanischen Hauptstadt sind voller Menschen, hupenden Tuk-Tuks, Straßenmärkten, Touristen. In den ersten Tagen verfolge ich intensiv die Nachrichten, lerne, dass das Virus nun einen Namen hat: Covid-19. Es kehrt annähernd Normalität in den Reisealltag zurück.

Der Fall eines infizierten Chinesen in der Hafenstadt Sihanoukville wird erst von den Medien verbreitet, dann von der Regierung widerrufen. Kambodscha bleibt in den Wochen meiner Rundreise ein von der Epidemie verschontes Land, scheint es. Allein die Sorglosigkeit des Premierministers Hun Sen im Umgang mit dem Virus lässt mich erschaudern, nachdem ich die leeren Straßenzüge von Chengdu und die Bilder aus Wuhan gesehen habe.

Er fliegt nach Wuhan und erklärt, dass er keine Angst vor der Krankheit habe. Genau so wenig wie als Soldat im Freiheitskampf seines Landes, berichtet die Phnom Penh Post am 5. Februar. Die 23 kambodschanischen Studenten müssten ebenso wenig wie er das Virus fürchten und werden nicht aus dem Epizentrum der Krankheit ausgeflogen. Er wolle keinen wirtschaftlichen Kollaps riskieren, wenn die chinesischen Gelder ausbleiben. Kambodscha sei auf chinesische Investitionen und Touristen angewiesen.

Rückkehr in die Normalität? In Kambodscha gibt es bei meiner Ankunft am 27. Januar noch keinen einzigen Corona-Fall.

Das Kreuzfahrtschiff Westerdam darf nach einer Irrfahrt am 13. Februar im Hafen von Sihanoukville anlegen und der Ministerpräsident begrüßt die Passagiere medienwirksam mit Handschlag und Blumen. In einer Pressekonferenz am 29. Februar erklärt er, dass er keine Maske trage, warum sollte also irgendwer eine Maske tragen? 

Es sind schlimme Verirrungen in einer Zeit, die stärker als die Finanzkrise aufzeigt, wie blind und unvorbereitet eine globalisierte Wirtschaftswelt auf Katastrophen reagiert. Hun Sen ist eines der besten Beispiele dafür, wie selbst aus einer Epidemie versucht wird, Profit zu schlagen. Diese und ähnliche Phrasen diskutiere ich mit einigen Reisenden in Hostels und an Strandbars, das süße Leben abseits der Katastrophengebiete. Am 12. Februar stoße ich mit den Hostel-Gästen in Battambang auf meine Gesundheit an: Die 14 Tage Inkubationszeit, seitdem ich China verlassen habe, sind um, ohne dass ich irgendwelche Krankheitserscheinungen hatte. Prost, Corona.

Am Hafen von Sihanoukville erhielt das Kreuzfahrtschiff „Westerdam“ die Erlaubnis anzulegen.

Dann schnellt Iran in den Nachrichten in nach oben. Danach Italien. Plötzlich sind auch die Reisenden wieder inmitten der Corona-Krise, die blauäugig und unter Palmen schon als schwelend, aber – aus europäischer Sicht – kontrolliert wahrgenommen wird. Noch nie habe ich mehr Menschen getroffen, die zwei Krankheiten miteinander verglichen haben, als in Kambodscha: Schlimm, aber nicht so schlimm wie Grippe.

Ich schreibe Amy und Lin in China. Amy antwortet mir am 10. Februar, dass sie nur noch fünf Tage im Gefängnis bleiben müsse. Sie meint damit ihr eigenes zu Hause und die Kontrollen durch die Block-„Manager“ und Polizisten, die die Ausgangssperre umsetzen. Wenn sie etwas vom Supermarkt braucht, wendet sie sich an den Manager. Am 26. Februar schreiben wir erneut: Es gebe nur noch einen Infizierten in Zigong, es kehrt etwas Normalität zurück in den Alltag. Aber sie als Englischlehrerin kann immer noch nicht unterrichten.

Lin antwortet mir am 26. Februar: Mir geht’s gut, schreibt sie in Deutsch. Aber was noch verrückter ist als die Krankheitswelle sei die Tatsache, dass es sogar in China immer noch Menschen gebe, die es nicht ernst nehmen. Sie arbeitet mit einem Deutschen zusammen, schreibt sie. Er sagt: Es sei nur ein bisschen schlimmer als eine Grippe.

Mit Jonas und Kathrin, die ich in Kambodscha kennenlerne, plane ich meinen Trip durch Vietnam nachdem mein 30-Tages-Visum abgelaufen ist. Schließlich ist es die unauffällige Mitarbeiterin des Busunternehmens, die mich auf den Boden der Tatsachen zurückholt.

Auch für Jonas und Kathrin war es ein kurzer Ausflug nach Vietnam. Am 19. März schreibt mir Jonas, dass er zurück in Deutschland ist.

Sie wirft einen Blick in meinen Ausweis an der Busstation in Phnom Penh. „Sie haben einen chinesischen Stempel. Damit können Sie nicht nach Vietnam einreisen.“ Ich erkläre ihr, dass ich doch schon vor 30 Tagen aus China ausgereist sei und kein Grund bestehe, mich nicht nach Ho-Chi-Minh-Stadt reisen zu lassen. Außerdem habe ich ein Visum und Vietnam hat vor wenigen Tagen die Grenze zu China wiedereröffnet. Sie ruft jemanden an und schüttelt den Kopf: Es handle sich um eine neue Anweisung. Keine Reisenden mit China-Stempel in Vietnam.

Sogar in diesem Moment zweifle ich noch an der Gefahr, die sich in kürzester Zeit auf der ganzen Welt ausbreiten wird. Ich denke an diplomatische Spielchen zwischen Vietnam, China und Kambodscha oder schlichtweg an einen Fehler. Doch die Schlinge zieht sich langsam zu.

Julia, eine Freundin aus meiner Heimatstadt Kulmbach, lebt in Jakarta und reagiert schnell auf meinen Hilferuf über Instagram. Ich frage in einer Story, in welches südostasiatische Land ich trotz China-Stempel einreisen könne. Sie ruft die deutsche Botschaft an, die eine indonesische Regierungsanweisung bestätigt: Wer länger als 14 Tage China verlassen hat, kann problemlos nach Indonesien einreisen. Ich buche das Ticket, während mir eine ältere Frau aus Großbritannien im Hostel erklärt, dass sie ja glaube, dass sich das Virus über das Mobildatennetz 5G ausbreite.

Kein Abstand, dafür Maske: Bis zur Ausreise tragen immer mehr Menschen Mundschutz.

Im Flughafen von Phnom Penh ist wie überall in der Stadt Normalbetrieb. Selbst der Flugverkehr von und nach China wurde nicht eingestellt. Ich gehe zum Check-In und zeige meinen Ausweis vor. Als die Mitarbeiterin der Citilink-Airline beim China-Stempel ankommt, die Seiten wenige Sekunden mustert und mich danach gleichgültig anstarrt, weiß ich bereits, was kommt: „I’m sorry, Sir.“ Am 28. Januar hat auch Indonesien beschlossen, keine Passagiere mit China-Stempel in die Flugzeuge einsteigen zu lassen.

Ich irre verwirrt durch die Eingangshalle. Ein Franzose, der beim Check-In neben mir stand, folgt mir und fragt mich, warum ich die Seite nicht einfach aus meinem Reisepass schneide. Ich sage, ich kann doch bei 14 Tagen Inkubationszeit nicht infiziert sein und wenn dann will ich ohne Geheimnisse in ein Land einreisen. Eine fehlende Seite könne mir schließlich auch in Europa Probleme bereiten und im Fall meines Passes wären es sogar zwei Seiten, die ich herausschneiden müsste. Keine Option, obwohl ich mir in diesem Moment ein Teppichmesser herbeifantasiere.

Am Informationsschalter im Flughafen schildere ich meinen Fall und frage nach, mit welcher Fluggesellschaft ich denn Kambodscha trotz China-Stempel verlassen könne. Die Mitarbeiterin ist freundlich, sie nimmt sich Zeit und hört mir genau zu. Hinter mir bildet sich eine Schlange und sie schreibt mir drei Airlines auf einen Zettel. Ich bedanke mich und lese den Zettel beim Weggehen: Asiana Airline, Korean Air, Air China. Ich drehe mich um und frage, ob das ein Witz sei.

„No joke, Sir.“

Vom Hostelbesitzer Rock habe ich mich bereits dreimal an unterschiedlichenTagen verabschiedet. Nun stehe ich wieder vor ihm. Er schüttelt den Kopf und ringt sich ein gequältes Lächeln ab. Was mein Plan ist? Keine Ahnung. Zurück nach Europa? Wahrscheinlich die einzig vernünftige Entscheidung.

Ich suche nach dem günstigsten Flug von Phnom Penh nach Europa. Tatsächlich. Air China fliegt. Ich bin in Eile, weil mein Visum bereits einen Tag abgelaufen ist und Rock mir erklärt, dass ich pro überzogenen Tag zehn Dollar zahlen müsse. Ich buche: Air China über Taipeh nach Wien.

Ich rechne mit allem bei meiner Rückkehr an den Flughafen am 1. März. Mir ist aufgefallen, dass plötzlich mehr Menschen in Phnom Penh Mundschutz tragen, seitdem sich die Meldungen aus dem Iran, Italien, Südkorea und Japan in den vergangenen Tagen verbreitet haben. Auch ich fühle erneut jene Unsicherheit, die mich durch die leeren Straßen Chengdus verfolgt hat, nur mit dem Unterschied, dass in Kambodscha immer noch kein einziger offiziell bestätigter Corona-Fall bekanntgegeben wurde. Doch die umliegenden Länder, außer Thailand, riegeln nach und nach ab.

Wegen eines Sicherheitsupdates meiner Bank hatte ich bei der Buchung keinen Zugriff auf meine Kreditkarte und deshalb hilfesuchend meinen Vater angerufen, um mit seiner Kreditkarte zu bezahlen. Ich habe mit dem nächsten China-Stempel-Problem gerechnet, aber nicht damit, dass die Mitarbeiterinnen am Check-In die Kreditkarte meines Vaters sehen wollen. Ich erkläre Ihnen, dass es in Deutschland Sonntag 4 Uhr morgens sei und ich meinen Vater nicht erreichen werde.

Mit zitternden Händen starte ich den letzten Versuch in das Flugzeug zu kommen, kurz bevor der Schalter schließt. Aufgelöst starre ich die beiden Frauen am Schalter an, die meine unnützen Anrufe und Flüche seit einer halben Stunde verfolgen. Gefangen zwischen Epidemie und Ökonomie knalle ich meine Kreditkarte auf den Tresen, die seit diesem morgen wieder funktioniert. „Buchen Sie einfach noch einen Sitz.“ Plötzlich geht alles wie von selbst. Eine der Frauen spricht auf Englisch am Telefon, schießt Fotos von meinem Pass und der Kreditkarte und schließlich bin ich der letzte Passagier der das Gate erreicht. Raus aus Kambodscha.

Aufgelöst erinnere ich mich an die Nachrichten aus Österreich: zehn bestätigte Fälle.

1. März: Leere in Taipeh

Das Flugzeug nach Taipeh ist nicht einmal halb voll und der Großteil der Passagiere trägt Masken. Ich kann mich an den Flug kaum erinnern. Die vergangenen Tage waren anstrengend und verwirrend und immer noch bahnt sich der Gedanke einen Weg, der nichts anderes sagt, als: Das wird schon. Die Reise ist noch nicht vorbei.

Werde ich verrückt? Ein Abstecher an den Geisterflughafen von Taipeh.

Ich erwische mich dabei, wie mit meiner blauen Maske auf einer Bank im Flughafen sitze und die Schokoladen-Verkäuferin gedankenverloren anstarre. Sie steht verlassen hinter ihrem Stand in einem Gang nahe meines Gates A7, an dem in acht Stunden der Flug nach Wien starten soll. Neben ihr ein Teddybär mit Aluhut und beschriftetem Spruchband: „I (Heart) Taiwan“. Jetzt sind alle verrückt geworden, sag ich mir beim Gedanken an die 5G-Engländerin und an eines der WLAN-Netzwerke im Flughafen zuvor: „Super Virus“.

Ich hab noch eine Zigarette und kein Feuer. Das wurde mir am Flughafen in Phnom Penh abgenommen. Ich streife durch die leeren Gänge des Flughafens und finde den Raucherraum. Niemand da. Die Schokoladen-Verkäuferin steht unverrückt an ihrem Platz als ich zurückkomme, in der aussichtslosen Hoffnung, dass irgendwann Kundschaft tafelweise Schokolade kaufen könnte. Die Duty-Free-Läden daneben: leer.

Ich finde einen Zigarettenladen und frage nach Feuer. Das werde hier nicht verkauft, sagt mir die Verkäuferin. Ich müsse mir ein Feuer im Raucherraum leihen. Da sei aber niemand, antworte ich. Wir schauen uns um und lachen verstört nach einem Blick in die Gänge, deren Ende sich im Licht der leeren Läden verliert. Ich kaufe eine Stange „Longlife“-Zigaretten, auf der ein Kind mit Mundschutz abgebildet ist. Ich sollte aufhören zu rauchen.

Kippen.

An die acht Stunden am Flughafen in Taipeh erinnere ich mich wie an ein Trauma. Nicht real, nicht fantasiert. Ich finde später Menschen mit Feuer im Raucherraum neben den Abflugtafeln, die alle Flüge nach China in rot anzeigen: cancelled.

Ich kauere mich auf einer Eckbank im Ruhebereich zusammen und höre mir den Themen-Podcast der Süddeutschen Zeitung an: „Chinas globale Mission“ aus dem Dezember 2018. Ein Satz der Korrespondentin Lea Deuber bleibt mir in Erinnerung. Sie spricht über den Deal der chinesischen Regierung mit der Bevölkerung:

„Ihr sorgt dafür, dass es uns jedes Jahr besser geht und wir halten uns aus der Politik raus.“

Die SARS-Epidemie, stelle ich in China fest, ist einer der wunden Punkte der vergangenen Jahrzehnte des Aufstiegs. Das Regime fürchtet nichts mehr als Krankheiten und die von der Partei als politische Krankheit angesehenen Demokratisierungsbewegungen im eigenen Land. Eine erneute Epidemie schürt Misstrauen und Unsicherheit. Genau das, was die chinesische Regierung vermeiden will – allen westlichen Verschwörungstheorien über 5G-Infektionen und militärischen Biowaffen-Laboren zum Trotz.

2. bis 11. März: Kontrollverlust in Österreich

Das letzte was ein Reisender aufgeben will, ist die Reise. Mit diesem Gefühl betrete ich den Flughafen Wien. Ich habe einen neuen Plan. Vielleicht wird alles halb so schlimm mit der Krankheit. Woher ich diese Hoffnung gewinne, wie ich mich überhaupt auf diesen Gedanken versteifen kann, bleibt mir ein Rätsel. Ich treffe die Entscheidung durch Österreich zu trampen, weiter in die Schweiz, vielleicht nach Frankreich, hoch nach Köln und Berlin und meine Reise wenn schon nicht am Pazifik, dann aber doch zwischen Nordsee und Alpen zu beenden.

In Österreich ist noch alles normal bei zehn Infizierten am 2. März. Die Situation ändert sich dramatisch bis zu meiner Ausreise am 11. März.

Der Scanner scannt meinen EU-Reisepass. Eine Glastür öffnet sich und schließt sich hinter mir, bevor sich wenige Sekunden später die Glastür vor mir öffnet. Ich bin offensichtlich der einzige mit EU-Reisepass, der das Flugzeug verlässt. Alle anderen Passagiere gehen zum Nicht-EU-Bürger-Check nach rechts. Hinter einer Scheibe sitzt ein österreichischer Polizeibeamter der etwas sagt, dass ich nicht verstehe. Ich rechne mit einer Gesundheitskontrolle oder zumindest einem Thermometer und frage „Wie bitte?“. Er sagt: „Guten Morgen.“ Willkommen in Wien.

Es gibt einen perspektivischen Unterschied zwischen Asien und Europa in Hinblick auf die drohende Pandemie. In Taipeh wird man von den Flughafen-Arbeitern schräg angeschaut, wenn man seine Maske abnimmt. In Wien, wenn man eine trägt.  In der S-Bahn Richtung Wien Mitte verstaue ich meine Maske wieder im Rucksack und genieße die europäische Ruhe vor dem Sturm.

Das Trampen funktioniert mal besser, mal warte ich länger. Ich komme aber überall an, wo ich hin will. Von Wolkersdorf im Weinviertel zum Kloster Melk, nach Linz, Salzburg, Mühlbach am Hochkönig. Ich besuche den Felix in seiner Skilehrer-Wohnung in Mühlbach. Felix ist mir zufällig dreimal auf der Reise begegnet: erst in Batumi, dann in einer Bar in Tbilisi, später auf der Straße in Teheran.

Kein Grund zur Sorge? Kurz nach meiner Abreise erlässt Österreich auch für meine Reisefreunde Felix und Sebi eine Ausgangsbeschränkung.

„Ihr habt ja noch Nudeln im Regal“, sage ich ich ihm nach meiner abschließenden Provianttour durch den Supermarkt in Mühlbach. „Vielleicht sollte ich ein paar Packungen nach Deutschland mitnehmen.“ Zwischen dem 2. und 11. März berichten die Zeitungen von Quarantänen in Italien, von Hamsterkäufen in Deutschland und von einer Gefahr die droht, als wär sie noch nicht hier.

Mein letzter Fahrer ist Christian. Er setzt mich an einer Raststätte bei Innsbruck ab, nachdem er im Kleintransporter laut überlegt hat, ob hinter der ganzen Corona-G’schicht‘ nicht doch etwas anderes steckt als eine Fledermäuse, Schlangen und Mutationen. Irgendeine weltweite Intrige, ein moderner Krieg. Aber wer profitiert davon? Wir überlegen. Außer dem düsteren Pharmakonzern ohne Namen und den Finanzministern vor der nächsten Rentendiskussion fällt kein weiteres Wort, während das Lachen im Hals erstickt. 

Ich warte auf der Raststätte Innsbruck-Ampass mit einem Schild, auf dem ich „Vorarlb.“ geschrieben habe. Im Viertelstundentakt hält ein Auto und niemand fährt weite Strecken. Ich kriege immer neue Meldungen auf mein Smartphone. Die WHO stuft die Epidemie zur Pandemie hoch. Die Corona-Fälle häufen sich in Italien, aber nun auch in Österreich und Deutschland. Die Grenze nach Italien wird abgeriegelt und die Leere auf den Parkplätzen erinnert mich an die Straßen von Chengdu. Nach einer Stunde spüre ich, wie der Reisetrieb in mir zur Resignation verkommt.

Ich schreibe meinem Kumpel Matthäus in München. Schlafplatz? Kein Problem. Und im Strom spielt eine Band, die wir seit zehn Jahren dank der Drogeneskapaden des Sängers vergeblich versuchen live zu sehen. Das ist der Tag, das Ende ist nah. Reisen? Nur noch Richtung zuhause.

Kein Zug über den Brenner, für mich geht es weiter nach München.

Ich kaufe mir ein Ticket am Bahnhof in Innsbruck, an dem sich etwas mehr Menschen herumtreiben als am Flughafen in Taipeh. Am Ticketautomaten hängt ein Schild in drei Sprachen: „Brennerverkehr gesperrt!! No train connection to Italy!! Nessun treno per Italia!!“ Die zwei Ausrufezeichen zeigen erste Anzeichen der Panik.

11. bis 19. März: Tour de Force – Bayern

Ich bin offensichtlich weder ein weit- noch vorsichtiger Mensch. Die WHO ruft die Pandemie aus und ich finde mich Stunden später mit Matthäus und einigen unserer Freunde auf dem Konzert der Band DIIV in München. Wir reden über Corona, übers Leben in meiner Abwesenheit, über die Reise nach Deutschland und deren baldiges Ende. Ich erzähle einiges aus der Situation in China und lehne weiterhin ab, die Realität in Europa zu erkennen.

Unsere Freiheiten sollen verschwinden, wie hinter den überwachten Blockzäunen in China, wegen einer Krankheit, die uns nicht einmal verletzen kann.

–  Uns vielleicht nicht, aber die Alten.

Das Leben geht doch weiter.

– Ja, aber mit gewaltigen Einschränkungen, entwickelt sich das ähnlich wie in China.

Sehenden Auges rennen wir in diesen Tagen in die Krise.

„They gave us wings to fly / but then they took away the sky“, säuselt Zachary Cole Smith von der Bühne. Die können uns doch nicht einfach unseren Himmel nehmen.

Letzte Station der Reise durch Österreich: der Hochkeil – etwas abseits des Ski-Tourismus.

Amy schreibt mir einen Tag später, am 12. März. Sie erzählt, dass sie immer noch nicht zur Arbeit gehen kann, obwohl es in Zigong keine Infizierten mehr gebe. Sie verfolgt die Nachrichten und schreibt, dass die Menschen in Italien  für die Freiheit und gegen die Quarantäne kämpfen. Ich frage sie, ob sie denkt, dass China mit der strikten Ausgangssperre richtig gehandelt habe, obwohl der Staat damit die Freiheitsrechte der Bürger noch weiter beschränke.

Amy: „Auf jeden Fall war das richtig. (…) Zuhause zu bleiben dient der Gesundheit aller.“

„Ich denke, das wird auch bald in Deutschland passieren.“

Amy: „Ich hoffe es.“

Ich gehe ein letztes Mal in zwei Bars mit Laura, die seit dieser Woche nicht unterrichten darf, weil sie ihre Oma in Rom besucht hat.  Einer ihrer Freunde, ein Sanitäter, wird nach Hause geschickt, weil er einen Corona-Patienten am Vorabend behandelt haben soll. Als wir ihn treffen sagt er, er habe den Mann nicht behandelt, es sei sein Chef gewesen. Verwandte und Bekannte kommen als Skitouristen nach Deutschland zurück. Noch nie hat sich die Rückfahrt ungewisser angefühlt als in diesem Jahr. Dass ausgerechnet der Skitourismus die Petrischale einer startenden Infektionswelle sein soll, wollen viele genauso wenig wahr haben, wie ich das Ende der Reise.

Am nächsten Morgen wache ich auf und könnte meinen Tagebucheintrag mit den gleichen Worten beginne, wie Wochen zuvor in Chengdu. „Plötzlich bricht Panik aus…“ Allerdings ist es eine Panik, die ich so nicht aus Katastrophenfilmen kenne. Ein kopfloses Handeln, ja, auch meinerseits, aber in eine andere Richtung, als ich es erwartet hätte. Eine Realitätsflucht, die sich selbst in Krisensituationen an die liebgewonnenen Freiheiten und Gewohnheiten klammert und sie nicht loslassen will.

Kurz vor der Schließung: ein vorletzter Abend in München mit Rico, Matthäus und Tess.

Ich erwache am 13. März mit einem Kratzen im Hals. Matthäus beruhigt mich – Du hast ja kein Fieber! -, aber gleichzeitig bahnen sich an diesem Tag die Selbstvorwürfe ihren Weg, die mein Handeln über Wochen in Frage stellen. Ich sage meine Reise nach Augsburg ab, entschuldige mich bei meinen Freunden, die ich besuchen wollte, wähle am Abend die Corona-Notfallnummer 116 117, erzähle von meiner Reise und frage, ob ich mich testen lassen kann.

Österreich gelte noch nicht als Risikogebiet, kein Test für mich. Ich solle mit dem Zug nach Hause reisen und alle Sicherheitsvorkehrungen treffen: Hände waschen, Abstand halten usw.  Meine Eltern fragen mich am Telefon, ob es eine gute Idee sei, nach Hause zu kommen. Ich bin mir nicht sicher. Aber wo soll ich hin? Meine Wohnung habe ich vor zwei Jahren aufgegeben. Der Mann an der 116 117 sagt mir, ich solle meinen Hausarzt aufsuchen. Ich bin zudem in Deutschland nicht krankenversichert. Erst wieder, wenn ich mich arbeitslos gemeldet habe. Und mit der Meldung zur Arbeitslosigkeit verhält es sich wie an einem Grenzübergang. Nur persönlich mit Pass zählt – in Lichtenfels und eben nicht in München.

Auf der Zugfahrt nach Nürnberg und weiter nach Burgkunstadt zähle ich Namen auf: Trixi. Helmuth. Martha. David. Verdammt, wie hieß der zweite Autofahrer nach Melk?! Reinhard. Roland an der Metzgerei. Pater Felix. Mostafa. Wem habe ich die Hand geschüttelt, wen umarmt?  Was habe ich mir gedacht, als ich das DIIV-Konzert als etwas ausgeweitete Masern-Party für Spätpubertierende bezeichnet habe? Ist wirklich alles so schlimm? Oder dreht sich die Spirale zurück, weil Europa… weil Europa….

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bezweifle ich, dass Europa eine Pandemie besser kontrollieren und eindämmen kann als ein Staat, dessen Machtapparat sich bereits auf bestehende Überwachungssysteme stützt. Europa, unsere Freiheit, unser Wohlstand. Unser Versagen, wenn wir Freiheit und Status aufgeben müssen.

Ich erreiche Burgkunstadt und schon jetzt hat sich vieles verändert. Meinen Vater begrüße ich mit dem Ellbogen, meiner Mutter winke ich zu. Ich bin verunsichert, versuche so wenig wie möglich anzufassen, was nicht so einfach ist.  Ich mache mir Gedanken, durch wie viele Hände die Brötchentüte beim Bäcker gegangen ist und ob ich mein Bier mit einem Desinfektionstuch abwischen sollte, damit ich bloß meine Eltern nicht anstecke. Mein Vater wurde vor Kurzem an der Schulter operiert, meine Mutter nimmt seit meiner Jugend Medikamente nach einer Herzklappenoperation. Ich brauche Gewissheit und gleichzeitig zieht es mich noch einmal nach draußen.

Das einzige, was ich berühre, ist das Bierglas und mich. Ich mache mir Gedanken darüber, ob es gefährlich für die Wirtin Rita und den Wirt Theo werden könnte. Das war der letzte mal, schwöre ich mir, dass ich mich in Kneipen bewege. Ich denke über Schutzmaßnahmen nach, das Desinfektionsmittel trage ich seit China immer bei mir. Ich wasche mir immer öfter die Hände. Den Höhepunkt erreiche ich zwischen Samstag und Donnerstag. Ich zähle an einem Tag, dass ich mehr als 20-mal die Hände wasche, einen sonst mechanischen Vorgang bewusster und länger ausführe, als jemals zuvor in meinem Leben. Kann ich damit andere schützen?

Flucht aufs Land und in die Natur: Mein Bruder David und ich entscheiden uns für den Wald als einsames Reiseziel zwei Tage vor der Ausgangsbeschränkung.

Am Montagmorgen rufe ich den Hausarzt an und erzähle von meiner Reise. Die Sprechstundenhilfe reagiert geschockt: „Nein, zu uns gehen Sie nicht.“ Ich solle die 116 117 anrufen. Ich erkläre ihr, dass mich die 116 117 an den Hausarzt verwiesen hat. Spielt keine Rolle. Ich muss einen anderen Weg finden.

Ich rufe im Krankenhaus an, die Rezeptionistin verweist mich an das Gesundheitsamt. Im Gesundheitsamt werden meine Daten aufgenommen, mein Halskratzen hat sich verschlimmert. Schließlich erhalte ich einen Rückruf. 14.10 Uhr müsse ich am alten Krankenhaus in Lichtenfels sein für den Nasen- und Rachenabstrich.

14.10 Uhr. Die beiden Mitarbeiter des Gesundheitsamts befragen mich zu meiner Reise: Sind Sie mit dem eigenen Auto gefahren? Nein, getrampt. Offensichtlich ringt sich die Frau, die mich vom Autofenster aus mustert hinter ihrer Maske ein frustriertes Lächeln ab. Ich kann sie verstehen.

Als ich am Donnerstag endlich Gewissheit habe und mit meinen Eltern am Frühstückstisch sitze, klingelt das Telefon. Erst ruft meine Oma, 81, an. Mit etwas Geduld gelingt es meiner Mutter, sie zu beruhigen. Sie versteht nicht, dass sie im Moment ihre Urenkelin, die Tochter meiner Cousine, nicht mehr sehen darf. Meine Oma denkt, es sei wegen ihr. Dass sie dadurch geschützt wird und nicht das Kind, fällt ihr schwer zu glauben. Ihr zweites Problem: Sie hat sich ihr Leben lang geweigert, eine Bankkarte zu benutzen. Geld war für sie bar und am Schalter erhältlich. Mehr wollte sie nicht. Ab nächster Woche ändert sich das.

Meine Großtante, 84, beschwert sich, dass ich nicht mit ihr den Baumarkt gehe. Meine Freunde sind verunsichert, wie es auf der Arbeit weiter geht, wann die Ausgangssperre einsetzt, ob das Leben danach „normal“ verläuft wie vor der Pandemie und wenn ja, wann. Meine Mutter muss immer noch im Callcenter arbeiten – wenn auch auf absehbare Zeit, bis sie ins Home-Office wechseln darf. Mein Vater ist noch bis nächste Woche krank geschrieben.

Eine der Fragen ist seit heute, wenn dieser Text entsteht, beantwortet. Markus Söder verkündet um 12.30 Uhr eine Ausgangsbeschränkung für Bayern, was einem äußerst gemäßigten chinesischen Hausarrest entspricht. Wer soll auch all die Menschen kontrollieren? In Bayern gibt es eben keine Block-Manager und -polizisten, keine Software, in der die  Bürger direkt verfolgt werden und notfalls benachrichtigt werden können.

Um 14.14 Uhr schreibe ich Amy in Zigong, dass Bayern nun auch unter Hausarrest steht. Ich frage Sie, ob sie wieder auf die Straße darf oder wie lange sie nun schon Gefangene ihrer eigenen Wohnung sei. Sie sagt, bis jetzt sind es 49 Tage, unterbrochen von einem Ausflug aufs Land zum Fischen und ein paar kurzen Einkaufstouren. Es sei allerdings nicht so, dass sie ihren Wohnblock nicht verlassen dürfe. Es gebe nur keinen Grund ihre Wohnung zu verlassen. Öffentliches Leben existiere nicht, fast alle Läden sind noch geschlossen.

Sie habe sich an den Arrest gewöhnt, schreibt Amy, und dass es absolut notwendig sei. In Zigong sei offiziell gerade niemand mehr infiziert. Besteht Angst vor einer zweiten Welle? Amy weiß es nicht. Hoffnung auf eine Rückkehr in die Normalität besteht seit diesem Tag. In den Nachrichten wurde angekündigt, dass ab Samstag Bibliotheken und Restaurants in Zigong wiedereröffnet werden. Amys Schule, an der sie Englisch unterrichtet, bleibt geschlossen.  Zum Abschied schreibt sie:

„Genieße dein Leben im Gefängnis.“

Mein Vater fragt mich, nachdem das Gesundheitsamt mir am Donnerstag mein Negativ-Ergebnis mitgeteilt hat, wie ich denn bitte da durchgekommen bin, ohne mich zu infizieren. Ich weiß es nicht, sage ich.

„Hände waschen.“

Er sagt: „Das solltest du schreiben.“

Das einzige, was ich seit China aufs Penibelste durchgezogen habe, war mir die Hände mit einer nie dagewesenen Routine, ja bis hin zu einem Wahn zu waschen.  Mittlerweile überlege ich, ob das überhaupt gesund sei oder ob ich bald an Mysophobie, also Waschzwang, leiden werde. 

Habe ich einfach keinen einzigen Infizierten getroffen?

Hat mir der Mundschutz etwas gebracht?

Hatte ich nur Glück?

Was hat mich vor der Krankheit bewahrt? Mundschutz? Hände waschen? Glück?

Als ich diesen Text verfasse, verabschiede ich mich zum ersten Mal verständnisvoll von meiner Reise, meiner über zwei Jahre andauernden Alltagssoziabilität hin zu einer quasi Null-Kontakt-Situation. Es war ein schmerzhafter Abnabelungsprozess in den vergangenen Tagen, der mich kurz nach der Ankunft in einen annähernd depressiven Zustand gestürzt hat. Bis zum Anruf hat es angehalten. Dann habe ich habe akzeptiert, dass auf die Zeit des Reisens nun eine Zeit des Ruhens folgen wird.

Am Tag der Veröffentlichung sind weltweit 11187 Menschen an den Folgen der Covid-19-Infektion gestorben.

4 Antworten auf „My Corona – Chronologie einer Reise durch Epidemie-Gebiete“

  1. Super Artikel, kann das alles nur bestätigen, waren auch 3 Monate in Asien Philippinen und Kambodscha wo wir in Siem Reap auch den Basti getroffen haben. Zwar ein bisschen verrückt aber ein super Typ und wir haben trotz dem Altersunterschied von über 40 Jahren sofort verstanden. Auch für uns war das Virus ganz weit weg zumal das Leben dort ganz normal verlief. Ohne Internet hätten wir davon davon nichts mitbekommen und haben die Meldungen aus Deutschland als überzogen und typischen deutsch Deutsch abgetan. Auch wir hatten bei der Rückkehr keinerlei Kontrolle, weder in Khnom Penh, Bankogk oder Frankfurt. Haben auch noch Freunde die auf den Philippinen und Kambodscha festsitzen, ein Freund aus der Schweiz berichtet das Kambodscha warscheinlich das einzige Land ist wo das Virus kein großes Thema ist, Läden, Lokale alles offen, das Problem ist nicht die Ausreise sondern die Einreise in andere Länder alle Nachbarländer haben die Grenzen geschlossen. Ich hoffe das wir das in den Griff bekommen und alle etwas daraus lernen z.b. das wir hier nicht der Nabel der Welt sind auch nicht auf einer Insel leben- das Virus kennt keine Grenzen,keine Weltanschauung und keine Religion

  2. Lieber Bastian, ein wirklich sehr toller Artikel, danke für die offenen und sehr persönlichen Einblicke in eine verrückte Zeit! Pass auf dich auf und bleib gesund!
    Beste Grüße aus Bamberg,
    Dein Freund René (Z-Man)

  3. Ein Artikel der mir wahrscheinlich immer im Kopf bleiben wird. Spannend und toll geschrieben – auch wenn die Thematik dies grundsätzlich nicht ist.
    Grüß den nächsten Fleck Erde von mir.

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