Lernen zu stöckeln: Die Chronik einer Wanderung (Teil 2)

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Ich bin dann mal weg. Heißt nach und seit Kerkeling: Ich bin dann mal eine weite Strecke wandern und weiß nicht genau warum. Finde dich selbst und andere hartesoterischen Slogans versuchen zumindest eine Anleitung zu geben. Und wenn schon: Ich finde Freibier, Stammtische und ein Land, das aussieht, wie der Vergnügungspark kurz vor der Schließung.

Das Riesenrad ist aus, Popcorn gibt’s nur noch vom Boden aufzulesen und der Typ, der „Eine Runde noch, kommen Sie näher!“ von der Autoscooter-Kabine aus im feinsten Jahrmarktssingsang in die abwesende Menge ruft, der sitzt schweigend mit Dosenbier auf einem Klappstuhl. Hinter ihm rumpelt gar nichts mehr. Irgendwas läuft schief im ländlichen Franken. Ich kann das Bild tagelang nicht loswerden und habe auf meinen einsamen Strecken über Hügel und durch Wälder immer wieder diese Kindheitserinnerungen: Das Feuerwerk ist aus, kein Volksfest mehr. Zumindest ist dort nichts, was sich lohnen würde gesehen zu werden. Wer schaut schon gerne frustrierte Autoscooterbetreiber beim Biertrinken zu? Das Kindheitstreiben ist aus. Die Menschen verschwinden von den Straßen. Gehen Sie weiter, hier gibt’s nichts zu sehen.

Franken im Mai 2019. Der große Rückzug ins Private hat schon eher eingesetzt, aber zumindest kann ich mich mit meinen 33 Jahren noch bildlich diese Bewegung nachvollziehen. Als ich mit meinem Vater und meinem zehn Jahre jüngeren Bruder am Faschingsdienstag über den Burgkunstadter Marktplatz gelaufen bin, hat mein Vater angefangen aufzuzählen: Dort ein Wirtshaus, daneben gleich noch eins, da hinten eins. Summasumarum sieben Wirtshäuser gab es in seiner Jugend in den 1970er- und 80er-Jahren rund um den Marktplatz. In ganz Burgkunstadt zählt er 21 Wirtshäuser und Kneipen auf. Heute sind zwei der alteingesessenen Brauereiwirtschaften, von der eine nur noch unregelmäßig geöffnet hat, eine Marktplatzkneipe hat mein Großcousin wiedereröffnet, ein Hotelrestaurant existiert seit Jahrzehnten konkurrenzlos und ansonsten gibt es noch vier Einrichtungen, die ausschenken. Die Ökonomie erlebt gerade ihre zweiten Umbruch seit dem Zweiten Weltkrieg. Erst ist die Schuhindustrie abgetreten, dann hat sich die Versandhauskrise auch in Burgkunstadt breit gemacht. Verglichen mit dem Jahr 1980 leben knapp 400 Menschen weniger in der Stadt (6441, Stand 31.09.2018).  Die Untere Altstadt – in meiner Erinnerung mit bunten Läden, Eiscreme und Straßengewaaf – gleicht einer Geisterstadt.

Hinter Altenkunstadt: Vögel, die mich daran erinnern, dass mich trotz aller Natur das Fernsehen mehr beeinflusst hat, als die Welt da draußen.

Es kommt mir so vor, als befindet sich ein ganzer Landstrich in einer chronischen Rückzugsbewegung, eine Flucht ins Private oder in die nächstgrößere Stadt mit Uni, Theater, Technoschuppen. Bloß weg hier – und wer doch übrig bleibt, sucht Ruhe oder zumindest keine geistige Erschütterung – der introvertierte Charakterzug, der von mir sonst hochgeschätzten fränkischen Gemütlichkeit. Ein zugezogener Kellner in Bamberg stellt beim knappen Tischgespräch ein Urteil aus, das meinen Eindrücken aus mehreren Wochen in der alten Heimat überraschend nahe kommt: „Ich kenne keinen anderen Landstrich in Deutschland, in dem derart intensiv über andere geredet wird.“ – Und im Umkehrschluss weniger über sich, ergänze ich an dieser Stelle. Zumindest wird nur selten über etwas geredet, was persönlich-emotional ist. Da muss schon der Nachbar herhalten, der dem Erzähler ein gutes Gefühl gibt, weil er gerade seinen Job wegen seiner Saufexzesse verloren hat. Bei mir läuft’s dann doch besser, versteckt sich hinter der bemitleidenswerten Geschichte.

Schreib ich das alles als Abrechnung mit Franken, als unausgewogene Kritik an meiner Heimat, die ich über die Jahre verloren habe, wieder zurückgekehrt bin und sie mich jetzt verstößt? Für mich fühlt es sich anders an. Ich hätte mich nicht auf den Weg gemacht, wenn mir die Gegend und die Menschen nichts bedeuten würden. In der Stadt ist Gemeinschaft nicht essentiell. Auf dem Land fällt es sofort auf, wenn sie weg ist. Ich wollte es genauer wissen: Wo versteckt sich denn das Franken, das ich in mir trage? Nach einer viel zu langen Einleitung: die Chronik meiner (krankheitsverkürzten) Wanderung:

Burgkunstadt nach Sanspareil

Phrasen dreschen: Die ersten Schritte sind die schwierigsten. Egal, ob ich auf zwei Beinen laufen lerne oder zum ersten Mal mit vier, verstärkt durch zwei Nordic-Walking-Stöcke, um den Rücken weniger leiden zu lassen. Laufen lernen ist kompliziert. Ich habe mich, seitdem die Walking-Kurse erst langsam dann schneller aus dem allfruchtbaren Boden der Volkshochschulen geschossen sind, gegen den – schrecklicher Begriff – Trendsport gewehrt und dabei ausgeblendet, dass es einen gebrechlichen Menschen wie mich ja irgendwie helfen könnte. Ich muss ja nicht mit den Hausfrauen und Hobbygärtnern den Ebnether Berg hochstaksen. Aber dass ich bei meinem ersten Versuch mit Stöcken zu laufen direkt Bayern durchqueren will und mir selbsterklärend der nordische Rhythmus fehlt, ja das hätte ich vorher ahnen können.

Die andere Fuhr war clean.

Zum Glück treffe ich Bernd. Bernd kocht seit ich mich zurückerinnern kann in der Hotelküche meiner Tante und meines Onkels in Altenkunstadt. Er ist direkt, hat einen Anker tätowiert und sein Essen schmeckt. Die ersten zweieinhalb Kilometer von meiner Haustür in Burgkunstadt bis zum Hotel Gondel in Altenkunstadt bin ich Rad gefahren. Das war eigentlich nicht Teil des Wanderplans, aber ich konnte meinen Onkel verstehen, dass die Gäste nicht auf ein Fahrrad verzichten wollen, das in meiner Abwesenheit 23 Tage unbewegt in einer Scheune steht. Bernd jedenfalls mustert erst mich, dann meine Stöcke, dann wieder mich von den Schuhsohlen bis zu den Geheimratsecken. Bernd habe auch Stöcke, sagt er. Er erzählt mir von seinen Rückenproblemen und dass ich mit den Stöcken eine weise Entscheidung getroffen habe. Ich denke an Bernd mit den Hausfrauen und Hobbygärtner am Freitagvorabend am Ebnether Berg. Aber ich glaube, er passt da nicht rein und außerdem arbeitet er dann. Bernd sagt, dass es gut sei, Stöcke zu haben, aber mir die Stöcke so nichts bringen. Zu hoch, eindeutig. Das ist schnell erledigt. Schrauben, schieben, zehn Zentimeter weniger. Ein paar Minuten später verabschiede ich mich von meiner Tante und begegne Bernd noch einmal im Hof. Bernd schaut mich an, nickt, wünscht mir eine gute Tour und erklärt zum Abschied, dass ich eine Sache beachten solle. Ich fahre nicht Ski. Ich wandere. Ich soll doch die Stecken abwechselnd nach vorne stochern. Linkes Bein, rechter Stock – und umgekehrt. Nicht wie ich: beide Stecken zur gleichen Zeit. Danke, Bernd. Das hat mir erspart, dass ich mich innerhalb weniger Kilometer zur Lachnummer der fränkischen Nordic-Walking-Szene mache.

Der Froschkönig hat recht. Wer braucht schon Menschen, der auf wahrheitsliebende Frösche trifft?

Wanderer und Backpacker sagen ja, dass man einfach loslaufen muss und die Menschen, die einem helfen, zur richtigen Zeit trifft. Ich treffe erstmal keine Menschen mehr. Zwischen Altenkunstadt und Sanspareil bin ich auf den ersten knapp 25 Kilometern mutterseelenallein mit mir und meinen Stöcken. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich sehe gelbe Rapsfelder und einen Vogel, der sich anhört, wie ein UFO aus einem B-Movie aus den Sechzigern über einem Feld mit schwarzen Sonnenblumen aus dem vergangenen Jahr. Klischeewandernd versuche ich mich an Wanderlieder zu erinnern. Mir fällt erst nur die „Schwarzwaldmarie“ ein, die ich vor Jahren bei einer Wanderung durch den Schwarzwald mit meinen Studienfreunden Frank und Timo gesungen habe. Ich kannte weder die Frau noch das Lied. Nach einer Woche Crashkurs in badischer Lebensart konnte ich immerhin die wichtigsten Passagen des Songs mitsingen. „Liebe kleine Schwarzwaldmarie, dich vergess ich nie“, auch wenn ich dich nie gesehen habe. Im Schwarzwald haben wir trotz der Gefahr, andere Wanderer und Waldtiere zu verstören, das Lied teils gegrölt, wenn es nichts mehr zu reden gab. Man ist ja unter sich. Doch zwischen Weismain, Bärental und Sanspareil bin ich allein unter mir.

Niesten…
…hat das letzte Bier in den Achtzigern ausgeschenkt.

Dieses Esoterikwandern lässt sich ja nicht erzwingen, sag ich mir und versuche das erste Wirtshaus zu finden. In Niesten wird seit den Achtzigern kein Bier mehr ausgeschenkt. In Neudorf fasse ich den Plan, einfach schnell nach Sanspareil zu kommen und lande hinter der Autobahn 70 in Schirradorf. Ein Wirtshaus hat zu, das andere offen. Ich bin der einzige Gast und bestelle das Herrengedeck für einsame Wanderer: Bier und Leitungswasser. In der Küche unterhält sich die Familie über die Sachen, die ich auch aus allen anderen mir bekannten Orten in Oberfranken kenne: Geburtstagsprobleme. Ein Familienangehöriger hat Geburtstag, lädt zu spät ein und dann will er noch dazu auf ein Fest. Naaa. Des mach mer net. In den Wochen in Oberfranken habe ich gelernt, dass ein Familiengeburtstag niemals mit Überraschungen gespickt sein darf. Wenn alles nach Schema F abläuft – Kaffee, Kuchen, Bier und Bratwürste -, ist der Haussegen einigermaßen im Lot oder man redet zumindest nicht über das schiefe Bild im geraden Rahmen. Passt scho.

Auf einer Breite mit Vancouver, Neufundland und Mainz: Schirradorf.

Ich spüre meine Füße. Aber immerhin fühle ich mich so, als könnte ich mittlerweile direkt in den Nordic-Walking-Kurs für Fortgeschrittene einsteigen. Vom Burgfried der Burg Zwernitz aus, sehe ich Martina, die mich für eine Nacht in Sanspareil auf ihrer Couch schlafen lässt. Martina lebt schon immer in Sanspareil, wir sind wenige Kilometer voneinander entfernt aufgewachsen, sind gleich alt und haben uns in Oaxaca, Mexiko, kennengelernt. Sie hat meinen Artikel bei Google gefunden und mich später bei Facebook. Zum Día de los muertos waren sie, ihre Schwester Karin und Kat in Oaxaca und ich auch. In Oberfranken haben wir uns verpasst, weil Martina in die eine und ich in die andere Bauerndisco gegangen bin. Ich war an diesem Tag gerade einmal acht Stunden unterwegs, aber ich merke, wie wenig ich mit mir allein sein kann und freue mich auf ein paar Stunden bierselige Gespräche am Dienstagabend.

Ein Leben auf dem Ponyhof: Martina (rechts) stellt mir Sonja vor und Sonja stellt mir ihre mehr als 70 Pferde, Ponys und Esel im Pferdeparadies vor. Sie kann sich tatsächlich alle Namen merken.

Wir sitzen auf ihrer Silbertablettterrasse, die so heißt, weil uns jeder in Sanspareil sehen kann, der die Straße entlang geht oder fährt. Martina grüßt alle, ich imitiere sie ab und zu. Irgendwann kommt ein junger Mann aus dem Dorf mit einem Stapel Plakaten unter dem Arm an der Terrasse vorbei. Er ist bei der JU, sagt Martina, die ihn schon von Weitem erkennt. Ich sehe endlich meine Chance, das zu loszuwerden, was mir schon seit Beginn der Europawahl-Plakatierungsaktionen auf den Nägeln brennt und mir in allen durchwanderten Dörfern begegnet: „Jetzt sei mal ehrlich: Das Hohlmeier-Plakat sieht doch aus wie Fantasy.“ Seit ich die ersten Plakate der CSU-Kandidatin für das EU-Parlament, Monika Hohlmeier, die nach diversen politischen Affären ihren Wohnsitz von München nach Bad Staffelstein verlegt hat, gesehen habe, denke ich an Einhörner, die durch Regenbögen springen. Ich kenne den Filter nicht, der das Gesicht Monika Hohlmeiers in eine Comicfigur verwandelt hat, aber zumindest weiß ich, dass sie fliegen kann, sollte der Hintergrund „Staffelbergidylle“ nicht mit Photoshop entstanden sein. Der JU-Nachbar Martinas sagt knapp, dass ihm das Plakat gefällt. Martina sagt, man erkenne Monika Hohlmeier noch als Monika Hohlmeier. Es fehlt nur der passende Slogan auf dem Plakat: „I just can’t photoshop my politics.“

Burg Zwernitz, Sanspareil. Ich kann nicht mehr.

Als ich mich länger mit Martina über andere Themen als Heile-Welt-Plakate unterhalte, eröffnet sich doch wieder ein anderer Blick auf die Welt jenseits der Städte. Das Land kennt sich. Das Land hilft sich – wenn es will. Das Land interessiert sich für das Krankheitsbild des mehr oder weniger geschätzten Nachbarn mehr als für den Atomtest in Nordkorea. Würde ich Martina nicht kennen, hätte ich mir sicher schwer getan, überhaupt mit jemand ins Gespräch zu kommen. Als unbekannter Wanderer kann ich noch so sehr fränkeln – man kennt mich nicht und ist erst einmal misstrauisch. Alle digitalen Kanäle sind offen, die Welt drängt in die letzten Winkel der Dörfer. Und ich? Wirke wenigstens ungefährlich mit meinen beiden Stöcken, die ich etwas arhythmisch zu meinen Beinen bewege. Links und rechts.

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