Aufzeichnungen aus dem Kellerloch // #2

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Wer verhungert, melde sich beim Ayatollah! Über ein Corona-Gespräch mit meiner Couchsurfing-Freundin Samira aus dem Iran, Blitzen zwischen den Einkaufskassen und einen Anruf meines Endgegners: Schnabel Schneider.

Ich weiß nicht, warum es so lange dauert, sich umzustellen. Bei mir funktioniert das Umstellen ganz gut. Wandern und Bier trinken hilft, die Regeln des U-Boot-Matrosen, auf die Jan Böhmermann bei Fest & Flauschig baut, sind auch ein guter Einstieg in die Isolation. Als ich am Freitag vergangene Woche im Aldi gewesen bin, hat mich doch überrascht, wie schwer es Menschen fallen kann, Gewohnheiten aufzugeben, sich umzustellen, neue Gegebenheiten anzunehmen.

Eine junge Verkäuferin an meiner Kasse bedient mit einem Lächeln die Schlange Kunden, die Abstand halten, ohne dass zu dieser Zeit Abstandsaufkleber auf den Boden angebracht waren. Sensibilisierungsphase, erster Teil. Als ich dran komme, es ist etwa Mittag, trifft ihre ältere Kollegin mit durchgewuschelten Haaren ein, die meine Shoppingtour unterbricht, indem sie die jüngere Kollegin fragt, was sie denn neuerdings beachten müsse. Die jüngere Verkäuferin erklärt, dass sie möglichst nur Kartenzahlung akzeptieren solle. Wenn jemand sich strikt weigert oder nur Bargeld dabei habe, solle sie das Bargeld annehmen und die Kasse anschließend mit dem bereitgestellten Desinfektionsmittel desinfizieren.

Ohne Kontext: ein Graffiti in Pfaffendorf.

Easy, denke ich mir. Das kriegt man hin. Das macht man ja schon in Grippezeiten, bei Noro und vielleicht auch bei der Schweinepest. Oder? Ich weiß es nicht, erachte das Desinfizieren aber, ohne jemals darauf geachtet zu haben, als hygienischen Standard in ungesunden Zeiten.

Die Wuschelverkäuferin schaut ihre jüngere Kollegin mit den langen blonden Haaren in etwa so an, als hätte sie ihr im gleichen Moment den Mann ausgespannt und ihr Auto gerammt. Ein Todesblick. An der Kasse herrscht schweigen und auch ich schweige andächtig und beobachte die unsichtbaren Blitze in der Luft zwischen Kasse 3 und 4. Bis kurz vor diesen Einkauf hatte ich einen angenehmen Einkaufstag in Latexhandschuhen. Ich bin erst seit dem Zeitpunkt etwas verstimmt, als ich bei Norma die gewünschten 10 Kilogramm Kartoffeln für meine Mutter vergessen habe und der Edeka nebenan Kartoffeln in gefühlten 50-Gramm-Säcken verkauft, ich also noch bei Aldi rein musste, obwohl ich Aldi und Lidl wegen ihrer Sterilität meide. Ich stehe also mit acht Kilogramm Kartoffeln — Aldi hatte nur vier Kilogramm Säcke und zwölf Kilo waren mir zu schwer wegen meines Rückenleidens — an der Kasse und warte auf die Explosion oder dass die Kartoffeln sich durch die Spannung in der Luft von selbst braten.

Die ältere Verkäuferin stöhnt wie ein Orkan, lässt sich wie ein Stein, der von dem Orkan aufgewirbelt wurde, auf ihren Stuhl fallen und geht vom Stöhnen in stöhnendes Klagen über: „ABER SONST GEHT’S NOCH?!“ Die Jüngere sagt, dass sie ja auch nach drei oder vier Bargeld-Kunden die Kasse desinfizieren könne, das solle reichen. Ein Stöhnen, ein Stuhldrehen, ein Bandquietschen, ein Scanfiepen, es geht weiter. Ich lächle der jüngeren Verkäuferin zu und zucke mit den Schultern. Sie ringt sich ein Lächeln ab. Vor dem Orkan war sie besser gelaunt.

Um das klar zu stellen: Ich bin jeder einzelnen Verkäuferin und jedem einzelnen Verkäufer dankbar, dass sie die Lebensmittelversorgung am Laufen halten. Das schreibe ich hier auch: Danke, liebe Verkäuferinnen und Verkäufer, dass ihr euch auch in Zeiten höchster Gefahr unerschrocken hüstelnden Alten, leichtsinnigen Jungen, Bargeldkunden und gehässigen Geschichtensammlern wie mir gegenüberstellt – ober besser: gegenübersetzt – und hofft, nicht krank zu werden. Das macht die Geschichte allerdings nicht weniger erzählenswert. Probleme mit Umstellungen und neuen Herausforderungen haben nicht nur Verkäufer, sondern auch hüstelnde Alte, meine Sahneflaschen-Oma, Corona-Party-Kids und gehässige Geschichtensammler.

Im Netto hat mich vor Kurzem eine sehr junge Verkäuferin, vielleicht eine Auszubildende, verängstigt an der Kasse angeschaut: Das Husten der Kunden treibe sie in den Wahnsinn. Sie habe Angst, angesteckt zu werden. Ich antworte ihr, dass sie ruhig bleiben soll. Ich sei in China gewesen.

Ich merke, dass das dumm war. Ich spreche schneller, weil mich auch schon die anderen Kunden anstarren wie einen Aussätzigen: „Ich meine, ich war in China und bin gesund!“ Ich sei getestet worden und alles ist gut. Ihr werde es auch gut gehen und sie soll nur auf ihre Hände achten. Sie atmet erleichtert aus. Die Sache mit den Händen war hier natürlich auch fehl am Platz. Das wäre ein Satz passend für die Wuschelverkäuferin gewesen. Die sehr junge Verkäuferin, die Schlange hinter mir und ich verabschieden uns mit einem Lächeln.

Zeit, Satellitenschüsseln zu installieren: die Corontäne.

Manche dieser Geschichten erzähle ich meinen Freunden im Ausland. Die von den Verkäuferinnen eher nicht. Samira* habe ich im Norden des Irans kennengelernt, als ich bei ihr und ihren Eltern couchsurfen war. Samira spricht fließend Englisch, dass sie sich selbst beigebracht hat und ist eine intelligente und aufgeschlossene Gesprächspartnerin. Ich spreche gern mit ihr und habe mich auch gefreut, als sie mir bei Instagram geschrieben hat.

Samira stellt mir eine ungewöhnliche Frage. Sie fragt mich, ob ich genug zu essen habe. Ihre Mutter sei besorgt, dass wir in Europa verhungern. Sie glaube den Lügen der iranischen Regierung ja nicht, die im Staatsfernsehen Europäer zeigt, die vor leeren Regalen stehen und in all seiner ungelenken Staatspropaganda der heimischen Bevölkerung weismachen will, wie schlecht es ja den anderen im Vergleich zur Islamischen Republik gehe.

Ich schicke Samira ein Bild, wie ich mit meinem Bruder Khinkali — mit Hackfleisch gefüllte, georgische Teigtaschen — zubereite. Ich schicke ihr auch ein Bild von mir, auf dem ich etwas den Bauch rausstrecke. Ich sage: Keine Angst, die Supermärkte sind voll. Wir haben zwar Angst, dass uns irgendwann das Toilettenpapier ausgeht, aber das Essen: niemals! Ich sage ihr, dass ich mir eher Sorgen mache, dass ich die Ausgangssperre kugelrund überlebe.

Es sei ja nicht nur das Essen, die Khinkali und acht Kilo Kartoffeln, es sei ja auch der Alkohol, den man am Abend zur Nervenberuhigung und Realitätsverdrängung mit der Familie trinkt, bevor man sich berauscht ins Bett fallen lässt. Samira, die ich als Mensch kennengelernt habe, der Freiheiten liebt und (Staats-)Verbote hasst, scherzt: Vielleicht sei es doch gut, dass Alkohol im Iran verboten sei. Menschen seien im Iran gestorben, weil sie daran glauben, dass das Corona-Virus durch starken Schnaps besiegt werden könne. Mitte März sind 73 Menschen durch gepanschten Arak verendet, eine Art Grappa, der im Untergrund destilliert wird, weil der Staat mit drakonischen Strafen die Alkoholherstellung verbietet. Seit Ausbruch der Corona-Krise Mitte Februar seien 225 Iraner wegen minderwertigen Alkohols an einer Methanolvergiftung gestorben, ein fünfjähriges Kind erblindet. Samira wünscht sich Destillerien, die erlaubt sind und kontrolliert werden. Sie selbst trinkt nicht, aber es wäre sicherer für alle Menschen, die sich derzeit Schnaps auf dem Schwarzmarkt besorgen oder eigenhändig brennen.

Samiras Beschreibungen sind erschreckend. Der Staat spiele ein „Alles ist gut“-Spiel und im Iran herrsche pures Misstrauen. Weil es keine Ausgangssperre gebe, haben sich viele Menschen nach chinesischem und europäischem Vorbild selbst Quarantäne verordnet. Samira ist seit 37 Tagen zu Hause. Doch unter Kontrolle sei die Krankheit nicht, auch wenn eine gefühlte Besserung in Sicht sei. Es gibt allerdings auch gute Entwicklungen, schreibt sie mir: Im Iran backen die Familien wieder selbst Brot und Süßigkeiten und verteilen es an Nachbarn, Freunde und Verwandte. Die Menschen helfen sich gegenseitig, erklärt Samira, der Staat helfe kaum. Sie geht davon aus, dass die Infektionszahlen auf Regierungsanweisung geschönt werden. Samira schickt mir ein Update: Seit Kurzem sei es verboten, durch iranische Städte ohne guten Grund zu fahren.**

Ich erzähle ihr zum Abschluss, dass mir Magdalena, eine Reisefreundin, die ich in Kambodscha getroffen habe, heute geschrieben hat, dass es nach dem Hausarrest mehr Scheidungen, mehr Babys und mehr Alkoholabhängige gebe. Samira sagt: Ich soll der Liste Dicke und heiratswillige Singles hinzufügen, die sich der oder dem Erstbesten nach der Quarantäne an den Hals werfen.

Mein Handy klingelt.

Ich: Ja?

Schnabel Schneider: Irma und Hans. Was in aller Welt hast du dir dabei gedacht?!

Ich: Hallo, Schnabel. Das sind alte deutsche Namen, die stellvertretend für…

Schnabel: Ich mein doch nicht die Namen. Ich mein, dass du in deinem Deppenblog über die Alten herziehen kannst, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Wahrscheinlich sind Irma und Hans oder wie sie wirklich heißen, allein und ohne Auto und ohne Kinder. Auf wen hackst du als nächstes rum? Behinderte? Kinder? Kranke?

Ich: Ich mein ja nur, dass es bessere Lösungen geben kann, als mit dem Seniorenbus einen Einkaufsbummel zu organisieren.

Schnabel: Fahr doch du.

Ich: Würde ich machen. Aber dann hab ich mich in der Zwischenzeit infiziert und dann stecke ich Hans und Irma an und…

Schnabel: Also was schlägst du vor, Lügenschreiber?

Ich: Hey, das sind ja keine Lügen. Ich sag ja nur, dass Hans und Irma zu Hause bleiben sollen.

Schnabel: Und wer kauft dann ein? Der Busfahrer?

Ich: Zum Beispiel. 

Schnabel: Warum bist du nicht Busfahrer?

Ich: Weil ich die Welt unterhalten muss.

Schnabel: Kannst du auch als Busfahrer. Die Alten danken es dir. 

Ich: Du bist gesund?

Schnabel: Ja, aber du bist krank.

Anrufende.

Ich mag Schnabel für seine Direktheit und hasse ihn dafür gleichermaßen. Wir kennen uns von einem Festival. Am Kippen-Werbestand musste man einen Zettel ausfüllen, um freie Kippen zu bekommen: Name, Adresse, Unterschrift usw. Als Schnabel seinen Zettel abgibt, schaut ihn die Promo-Frau verärgert an: Dein Name ist also Schnabel? Schnabel Schneider? Die Kippen hat sie schon auf die Theke neben meine gelegt. Ich schau ihn an und sage: Los, Schnabel, wir gehen zur Bühne. Seitdem kennen wir uns.***

Music for quarantine // Playlist on Instagram (bsuenkel)
      • Tag 1: Klez.E – „Desintegration“
      • Tag 2: House Party – „Adventure times“
      • Tag 3: Get Well Soon – „Love“
      • Tag 4: Beirut – „Gulag Orkestar“
      • Tag 5: Tocotronic – „Digital ist besser“

 

*Name geändert.

**Laut offiziellen Statistiken sind im Iran, als ich diese Zeilen schreibe, 35.408 Menschen infiziert und 2517 an den Folgen der Corona-Infektion gestorben.

***Ich bedanke mich bei Sven Regener und Hamburg-Heiner für die Inspiration eines inneren Korrektors am Telefon.

 

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