Auf der Suche nach nichts und etwas mehr: Chronik einer Wanderung (Teil 3)

Spread the love

Ist da was? Oder ist da nix? Was ist überhaupt das Nichts beim Wandern? Und was haben die turtelnden Sternensysteme Alcor und Mizar am 5. Juli 2025 geplant? Sunlight-Dinner? Auf dem Weg zwischen Sanspareil und Kirchehrenbach.

Von Sanspareil nach Breitenlesau

Herr Hacker hatte recht. Da is‘ nix. Das hat mir Martinas Vater noch am Vorabend über die Landschaft südlich von Hollfeld erklärt. Tatsächlich ist da nix. Also nicht Nichts, aber zumindest schon ein bisschen weniger Sein. Rund um Stechendorf hat die Flurbereinigungskommission ihr symmetrisches Meisterwerk hinterlassen, den Goldenen Schnitt der Feldwirtschaft, den vitruvianischen Menschen als Landschaftsbild – oder anders ausgedrückt: das langweiligste Stück Land das mir in Franken begegnet ist und begegnen wird. Gepflasterte Feldwege treffen im rechten Winkel aufeinander. Ich zähle die Kreuzungen wie in amerikanischen Kolonialstädten: drei, dann rechts. Nächste links. Zwei rechts. Das ist so langweilig, wie es sich anhört. Bei der Zählerei ziehen sich die Wolken zusammen und ein unangenehm von Böen gepeitschter Frontalregen setzt ein. Der Wind hilft den Regentropfen zielgenau unter meine Kapuze zu wehen. Stark.

Nichts? Naja, immerhin ein Stein, ein nichtssagender Baum, Gras und ein Flurbereinigungsweg.

Zähle ich nicht, singe ich die meiste Zeit Tocotronic: „Wir haben gehalten / In der langweiligsten Landschaft der Welt.“ Meine einzige Unterhaltung ist mein Songgedächtnis und die Muskeln in der rechten Wade. Sie zucken und drohen schon seit dem Kainachtal mit einer heftigen Krampfattacke. Ich habe ein Überdosis Magnesium eingeschmissen und mich in Kilometerabständen massiert und gedehnt. Ich schau mich um. „Und wie man allerorten hört / Wird die Gartenbaukunst hier noch gerne gepflegt.“

Eine Bäckerei geschlossen, die andere ein Backcafé mit mir als einzigen Gast. Ein Wirtshaus sieht verlassen aus, das andere hat sicher irgendwann geöffnet. Ein Mittwochmorgen in der Ortsmitte von Wonsees.

Es ist entscheidend für die restliche Etappe, wie den Wanderer die ersten Eindrücke des Tages prägen. Wonsees ist am Mittwochmorgen ein sonniger, einladender, wenn auch ausgestorbener Ort. Oberhalb von Wonsees steht ein hölzernes und windschiefes Bushäuschen auf einer Wiese, von der ich mir sicher bin, dass dort niemals ein Bus hält. Ich kann aber auch keine Wodkaflaschen finden, die darauf hindeuten, dass sich die Landjugend an diesem gottverlassenen Ort zum Saufen trifft. Das Bushäuschen hat seine Bedeutung offensichtlich komplett in Nichts verwandelt. Eine Feuerstelle daneben deutet immerhin darauf hin, dass sich das bald ändert. Für Feuerholz ist die Hütte eigentlich zu stabil. Um ihre alte Funktion zurückzuerhalten, ist sie zu krumm. Am Ende der Wanderung bin ich mir sicher: Ich bin das Bushäuschen.

Bushäuschen auf weiter Flur ohne Bedeutung wartet auf Abriss. Kunstinstallation. Hoffentlich.

In Hollfeld wirkt alles hingegen so, als möchte man die Gegend zwangsweise mit Sein und Sinn aufladen. Ein Haus ist von oben bis unten Mona Lisa. Wenn schon Kunst, dann bitte alles. Größer, besser, Hollfeld.

Das Lächeln Hollfelds.

Auf dem Weg zum Marktplatz komme ich über den Kussweg. Tatsächlich sind dort überall rote Lippen und ein Liebesbriefbriefkasten und eine Box mit einer Überraschung für den Reisenden, der Belustigung sucht. Also für mich. Ich finde in der Box eine Postkarten mit der Karikatur einer Bussituation, offensichtlich eine Unterhaltung zwischen Mutter und Sohn.

Der Sohn sagt auf Englisch: „Mother, I must great.“

Die Mutter: „Oh you shit!“

Der Kussweg ist vollkommen ungefährlich. Niemand küsst hier, niemand wird gestört.

Ich muss an das Bushäuschen in Wonsees denken. Das ist eines dieser Spiele, die man erfindet, wenn man sich beim Wandern nur mit sich alleine beschäftigen kann: im Leben jenseits der Wanderung unbedeutende Ereignisse – Bushäuschen, Postkarte – in einen komplett verkorksten Sinnzusammenhang setzen und dann doch noch einmal über die Schicksalhaftigkeit des Lebens nachdenken. Ja, das passt doch. Das Universum blickt auf mich. Erst dieses Bushäuschen, dann die Karte mit Bussituation, vielleicht sehe ich am Ende tatsächlich noch einen echten Bus. Was das Universum mir sagen will? Erfahre ich dann, wenn mich das Schicksal mit einer busfahrenden Freundin belohnt oder mich mit einem verpassten letzten Bus bestraft. Passt alles zusammen. Ich bin wieder Kind.

„Roll with it“. Einer der Songs, die mir beim einsamen Singspiel durch den Kopf geistern.

Kurz vor Breitenlesau an einem anderen Ende des Universums begegnen mir endlich Menschen. Natürlich sind das nicht die ersten auf der Wanderung. In Hollfeld sind mir ein Seniorenpaar auf Ausflug, drei Schulkinder und ein paar Passanten begegnet. Aber kurz vor Breitenlesau sind es erstmals Menschen auf weiter Flur, offensichtlich eine Familie, die sich der Landwirtschaft verschrieben hat. Im wieder einsetzenden Regen verpacken sie  frühlingsgrünes Gras in weißes Plastik. Auf Agrarökonomisch: Sie silieren. Ich sage „Grüß Gott!“, das ich mir für genau solche Situationen aus Kindheitstagen wieder antrainiert habe. Die Familie sagt nichts. Sind ja auch beschäftigt. Ich beschäftige mich anschließend wiederum mit der Frage, ob man nasses Gras in weißem Plastik schimmelt und ob ich mich richtig an meine Tage auf dem Bauernhof erinnere, wenn ich meine, dass es eine Sünde sei, nasses, grünes Gras zu verpacken, wegen der Tiere und deren Gesundheit. Eine Google-Anfrage später in meinem Nachtlager lese ich, dass es doch geht, wenn man ein paar Regeln beachtet.

Diese Regeln wären aber so langweilig und erschöpfend, wie das Ende meines zweiten Tage auf Stechendorfer Flurbereinigungswegen und schließlich im regnerischen, menschenleeren Breitenlesau. Weil ich niemand treffe, mich immer noch meine Krampfattacken und die ersten Blasen unterhalten und ich mich immer mehr den Sinnfragen nähere – Was mache ich hier eigentlich? -, frage ich in der Brauerei Krug nach einem Zimmer. Dort kenne ich mich aus und weiß, dass das Bier schmeckt. Nach einem Bier falle ich in einen schmerzhaften Schlaf. In dieser Nacht träume ich vom Nichts. 

Das Kainachtal ist idyllisch und war an diesem Tag vergleichsweise spannend. Ich habe einen Senfeimer aus dem klaren Wasser gefischt.

Ende des zweiten Tages: ca. 40 Kilometer zurückgelegt.

Von Breitenlesau nach Kirchehrenbach

Wenn es ein weiteres Wissensgebiet neben Biologie gibt, über das mich größtenteils das Fernsehen aufgeklärt hat, dann ist es die Astronomie. Star Trek und die Space Night haben immerhin einen kleinen Beitrag geleistet, damit ich mir ein paar schräge Sternnamen merken kann. Später im Internetzeitalter habe ich herausgefunden, dass ein Asteroid Sünkel heißt. Kein Witz. Über den Asteroiden ist kaum etwas bekannt, über seinen Namensgeber Hans Sünkel einiges mehr. Seit ich das weiß, will ich einen Planeten.

Wer noch nicht weiß, was sie oder er am 5. Juli 2025 tun soll: An der Aufseß in den Himmel gucken ist sicher keine schlechte Idee.

Von Alcor (oder Alkor) und Mizar habe ich bis hinter Breitenlesau allerdings nie etwas gehört. Im Aufseßtal zwischen Seelig und Voigendorf steht eine Bank, an der die Zeit ihre Spuren hinterlassen hat. Auf der obligatorischen Plakette, die normalerweise in Franken mit Slogans versehen ist wie „Wanderfreunde Soundso“ oder „Für Hans zum 70. Geburtstag“, sind die beiden Namen und ein Datum eingraviert: „Alcor & Mizar 5.7.2025“. Könnten die Namen der Kinder der Vorsitzenden eines benachbarten Kleinkunstvereins sein, denke ich. Aber das Rätsel reicht bis ins Universum. Von den beiden ist bekannt, dass es sich um ein Doppel– bzw. Mehrfachsternsystem im Großen Bären handelt, erklärt mir Wikipedia und ein paar Klicks weiter erfahre ich, dass sie, astronomisch gesehen, verdammt nah beieinander liegen und die gravitätische Beziehung zwischen den Sternensystemen bisher ungeklärt ist. Hört sich nach einer astronomischen Liebesbeziehung an, die auf einer unscheinbaren Bank an der Aufseß auf die Erde geholt wurde. Ich bin mir relativ sicher, dass die Bank bis 2025 durch eine neue ersetzt werden muss. Handelt es sich um ein Mindesthaltbarkeitsdatum astronomischen Ursprungs? Das würde die fränkische Wanderbänkchenszene revolutionieren.

Aus der Zeit gefallen: Franken bei Streitberg.

An Tag 3 verwandle ich mich endlich in den Wanderer, der ich sein wollte. Ein Entdecker, trittfest unterwegs, ich lerne den Weg zu lieben. Hinter der Hecke versteckt sich das nächste interstellare Rätsel und ja, es ergibt Sinn, dass genau ich auf den Trampelpfaden zwischen Voigendorf und Streitberg unterwegs bin.

„Geschlossen“

Alles geht seinen Gang und ich streune dazwischen umher. Wegmarken, die mir im Alltag nie aufgefallen wären, stechen mir plötzlich ins Auge. In Voigendorf hat man neben einen vollkommen zerstörten Streukasten einen neuen aufgestellt. Vanitas am Straßenrand. An der Klararuh oberhalb Streitbergs erkärt mir eine Studentin, dass das Kraut, dessen Namen ich vergessen habe und das die Studentin in dem Moment meines Erscheinens unterhalb des Kletterfelsens vermisst und zählt, möglicherweise durch die Kletterei leidet und dummerweise am besten unter jenen Felsen wächst, die vor allem für Kletterer ansprechend sind. Ja, Mist.

Streitberg.

In Streitberg ist mir schon annähernd egal, dass der Ort seine besten Zeiten hinter sich hat. Ein älterer Mann erschrickt, als ich ihn mit „Grüß Gott“ grüße, an der Pilgerstube hängt ein Schild „Geschlossen“ im Speisekartenkasten und im Wirtshaus gegenüber sollten sich Gruppen doch bitte telefonisch anmelden. Dann geh ich eben in die Brennerei, Streitberger Bitter, hat ja Christoph damals schon beim Bayreuth-Stammtisch mit erhobenen Zeigefinger bestellt. Ich decke mich der alten Zeiten Willen mit einer größeren und mehreren kleineren Flaschen im Klopferformat ein. Als Gastgeschenke oder für schlechte Zeiten. Geschäftsführerin Monika Mähringer schenkt mir einige Probegläser ein, schimpft über die Bürokratie und ist sich nicht sicher, was mit ihrer Sechsecketikettform passieren wird, wenn Schnapsflaschen künftig mit Alkohol-Warnungen versehen werden müssen. Die Größe der Warnschilder ist normiert und mächtig. Mich löst ein greiser Pfarrer ab, der sich zwischen „Bitter“ und „Altbitter“ nicht entscheiden kann.

Zur richtigen Zeit am Stammtisch: Gerhard, Ludwig, Renate, Thomas und Hans nehmen verlorene Wanderer auf.

Nächste Wanderer-Regel: Die eigene Stimmung entscheidet über das Gesehene. Tags zuvor hätte ich bei ähnlichen Erlebnissen wieder an mir und der Wanderung gezweifelt. Diesmal stiefel ich schneller als erwartet nach Ebermannstadt, rufe einigen Feldarbeitern noch „Spargel?“ zu und eine Arbeiterin ruft zurück: „Erdbeeren!“ In Ebermannstadt unterhalte ich mich zwei Stunden mit Hewlett-Packard-Techniker Tom aus Portland über Politik, während an uns vor der überdachten Terrasse des Wirtshauses die Sturmböen Sitzkissen und Blumen mit sich reißen. Und die Sache mit dem Schlafplatz? Auch der steht unter einem guten Stern. In Kirchehrenbach stellt mir Renate ihren Stammtisch im Landgasthaus „Zur Sonne“ vor. Sie und ihr Mann Hans formen aus Holz und Metall Kunstwerke und haben ein ganzes Stockwerk im Haus leerstehen, in dem zuvor noch ihre Kinder gelebt haben. Doppelbett, Badezimmer und ich der Nachtgast. Meine Blasen an den Füßen und meine Stimmung im Kopf geben mir ein Zeichen: Ich bin Wanderer.

Zurückgelegte Strecke: ca. 60 Kilometer

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert