Raus aufs Land: Neun Tage zu Fuß durch Franken

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Was passiert, wenn man im dünn besiedelten fränkischen Hinterland einfach Richtung Süden läuft? Wer bin ich für die anderen? Ein Fremder, ein Außerirdischer, ein Terrorist? Die Geschichte von einer Begegnung der äußerst gefährlichen Art. 

Die seltsamste Unterhaltung habe ich in Breitenlesau aufgeschnappt. Zwei ältere Frauen, offensichtlich alt-angestammte Einwohnerinnen, unterhalten sich über einen ihrer Nachbarn. Genauer gesagt: Eine Frau spricht, die andere nickt ab.

Frau 1: „Ich bin mir jetz‘ sicher. Der is‘ beim IS.“

Frau 2: „Meinst?“

Frau 1: „Wenn ich’s dir sag‘. Ich schreib schon immer auf, was ich seh‘, falls mal einer von der Polizei vorbeischaut.“

Breitenlesau – eher bekannt für durstige Biernasen als für abstinente Gotteskrieger.

 

Eine typische Alltagssituation in Franken. Zwei Frauen, die zumindest die Nachkriegszeit und den Wiederaufbau mitbekommen haben, ängstigen sich vor der Welt hinter dem Ortsschild von Breitenlesau und die Schatten, die sie bis in die eigene Nachbarschaft wirft. Ich wundere mich kaum darüber. Seit geraumer Zeit beobachte ich diese Mischung aus Fremdenängste und Sozialkritik in meinem direkten Umfeld.

Überrascht bin ich dann allerdings doch, als die Tochter der Frau mich anspricht, die ihren Nachbarn als mutmaßlichen Terroristen enttarnt hat. Der Mann, erzählt mir die Tochter, hat eine Frau geheiratet und ist nach Breitenlesau gezogen. Er hat einen deutschen Pass und spricht mit einem Akzent, den man sonst nie in Bierfranken hört: Norddeutsch.

Tatsächlich hat der Mann weder eine andere Hautfarbe – eventuell ein bisschen heller – als die drei Frauen, vermutlich war er noch nie im Nahen Osten. Aber er verhalte sich auffällig. Er sei nachtaktiv, erzählt die Tochter. Tagsüber bekomme man ihn nur selten zu Gesicht. In den Achtzigern hätte man ihn wahrscheinlich für einen Satanisten gehalten. 2019 gibt es andere Übel. Eines Nachts habe ihre Mutter auf dem Dachboden ein blaues Licht gesehen, berichtet die Tochter. „Marihuana?“, frage ich. „Kann auch sein“, sagt sie. Sie lacht. Sie ist nicht davon überzeugt, dass der norddeutsche „Reigschlaafde“, wie man in Franken neue Nachbarn nennt, die nicht innerhalb der Dorfgrenzen geboren und aufgewachsen sind, ein Kämpfer für die Belange des selbstbetitelten Islamischen Staates ist. Mit Sicherheit weiß er auch nichts von seinem Glück, dass eine Nachbarin ihn mit dem in diesen Tagen gefährlichsten, ja teuflischen Stigma identifiziert, das die Welt hinter dem Ortsschild hervorgebracht hat. Vielleicht ist er nicht einmal religiös, sondern HSV-Fan. Ich frage die Tochter, ob jemals jemand am Nachbarhaus geklingelt hat. Nein. Das wäre dann auch zu offensiv für das gemächliche fränkische Wesen.

Hinter Altenkunstadt.

Aus meiner Reise durch Bayern ist schlussendlich eine Reise durch Franken geworden. Statt den geplanten 23 Tagen war ich nur neun Tage zu Fuß unterwegs. Ich bin rund 160 Kilometer bis an die Donau gewandert, gehumpelt, am letzten Tag habe ich mich schließlich mit stechenden Schmerzen im Bauch nach Neuburg an der Donau geschleppt. Einen Tag später war klar: Das große Ziel, die Zugspitze, muss warten. Ich bin dann mal beim Hausarzt, zurück in Burgkunstadt.

Trotzdem ist es wie bei jeder anderen Reise auch, bei der man sich nicht in gebuchten Hotels oder mit dem Sangria-Eimer am Strand ausruhen will: Ich habe wieder eine andere Perspektive gewonnen. In diesem Fall hat sich mein Blick auf die eigene Heimat erweitert, ein Ausschnitt vom fränkischen Hinterland und ein kleinerer Ausflug ins nördlichste Oberbayern.  Von Nord nach Süd, von Burgkunstadt bis Neuburg, bin ich der Frage nachgegangen, wie sich das Leben auf dem Land abspielt, in Zeiten, in denen die Außenwelt immer mehr Einfluss auf den Mikrokosmos Dorf gewinnt. Ich wollte mich in die etwas Einsamkeit zurückziehen und mithilfe von Zufallsbegegnungen verstehen und vorankommen. Erstmal musste ich lernen, dass ich auch als Wanderer in erster Linie als Außerirdischer mit zwei Walking-Stöcken wahrgenommen werde. Seit Breitenlesau habe ich mich sogar gefragt, ob auch jemand denken kann, dass ich beim IS sei – oder HSV-Fan.

In den nächsten Tagen veröffentliche ich ein paar Texte und Bilder von meiner kurzen Wanderung durch Franken – alle Episoden findet ihr auf globalmonkey.net.

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